Mit großer Offenheit, seelsorglicher Kompetenz und tiefem theologischen Wissen begleiteten sie Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichstem kulturellen und religiösen Hintergrund. Besonders auffällig: Der muslimische Anteil in ihren Klassen lag zeitweise bei bis zu 80 Prozent.
In ihrem Unterricht begegneten die beiden Pfarrpersonen nicht nur den großen Fragen von Glaube, Gerechtigkeit und Zusammenleben, sondern auch aktuellen politischen Spannungsfeldern wie dem Nahostkonflikt, dem sie sich mit Offenheit und Klarheit stellten. Ihre eigene Biografie – insbesondere ein gemeinsames Jahr in Israel und viele intensive Begegnungen mit Holocaust-Überlebenden – prägte ihre Haltung ebenso wie ihr theologisches Verständnis von Dialog und Verantwortung nach Auschwitz.
Zum Abschied aus dem aktiven Schuldienst sprechen Silvia Schaake und Thomas Rössler-Schaake über prägende Momente, Herausforderungen im Klassenzimmer, die Chancen interreligiöser Bildung und über das, was sie nun loslassen – und mitnehmen – in den neuen Lebensabschnitt.
Was hat Sie motiviert, den Weg in den Schuldienst zu gehen – und was hat Sie daran gehalten?
Schaake: „Der Religionsunterricht an meinem eigenen Gymnasium, dem Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium, war für mich wegweisend. Er war lebensnah und anschaulich, geprägt von einem authentischen Religionslehrer. Diese Erfahrung weckte meine Freude daran, mit Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. Ich habe an verschiedenen Schulformen unterrichtet, von der Grundschule bis zum Berufskolleg, und auch mit ehemaligen Strafgefangenen gearbeitet.
Besonders wichtig war mir immer, die Schülerinnen und Schüler in ihrer Lebensgeschichte zu sehen und mit ihnen Fragen des Glaubens und der Existenz zu thematisieren. Die Zeit im Lehrerseminar in Düsseldorf 2020/21 war zudem sehr bereichernd für meine didaktische und pädagogische Weiterentwicklung.“
Rössler-Schaake: „Ich begann 1994 als Berufsschulpfarrer in Idar-Oberstein. Schon damals war es mir wichtig, Schülerinnen und Schüler seelsorglich zu begleiten. Mein Unterricht war immer dialogisch, suchte nach dem Wesentlichen hinter dem Gesagten. Später, in unserer gemeinsamen Zeit im Gemeindepfarramt, unterrichtete ich weiterhin an verschiedenen Schulformen. Jede Schule hat ihre eigene Prägung, ihr eigenes Klima. Besonders eindrücklich war ein Schüleraustausch mit einer Schule bei Tel Aviv, auch mit Schülerinnen mit Nahost-Hintergrund. Diese Erfahrungen haben meine Sicht auf Schule und Gesellschaft geprägt.“
Wie haben Sie die kulturelle und religiöse Vielfalt an Ihren Schulen erlebt?
Schaake: „Die Vielfalt war ein großer Schatz. Im Religionsunterricht kamen die Schülerinnen und Schüler oft miteinander ins Gespräch über ihre Auffassungen und Erfahrungen. Als Lehrerin habe ich versucht, einen Rahmen für respektvolle Diskussionen zu schaffen. Ein besonders eindrückliches Beispiel war eine Diskussion in einer Berufsfachschulklasse über den Stellenwert von Kultur in Krisenzeiten.
Ukrainische Schülerinnen und Schüler berichteten, wie Musik ihnen in U-Bahn-Schächten während Bombenangriffen Hoffnung gegeben hat. Syrische Schüler hingegen betonten, dass Brot und ein Dach über dem Kopf Vorrang haben. Solche Gespräche machen deutlich, wie wichtig Bildung für das gegenseitige Verständnis ist.“
Rössler-Schaake: „Als ich nach Wuppertal kam, bestand meine Schülerschaft zum großen Teil aus muslimischen Jugendlichen – teilweise bis zu 80 Prozent. Ich habe dabei oft erlebt, dass ich als Pfarrer eine hohe Autorität hatte, vergleichbar mit der eines Imams. Viele Schülerinnen und Schüler brachten mir große Offenheit entgegen, weil sie merkten, dass ich ihnen mit Respekt begegne. Besonders wichtig war mir, auch in Fragen von Demokratie, Geschlechterrollen und Gewaltfreiheit Orientierung zu geben.“
Welche Chancen und Herausforderungen ergaben sich daraus für den Unterricht?
Schaake: „Der Religionsunterricht bot die große Chance, dass die Schülerinnen und Schüler voneinander lernen konnten – über ihren Glauben, ihre Grenzen, ihre Erfahrungen. Oft wurde deutlich, dass ähnliche Fragen in verschiedenen Religionen auftauchen. Interessant war, dass sich Konfliktlinien nicht zwischen Religionen, sondern eher zwischen liberalen und fundamentalistisch geprägten Haltungen zeigten. Die Herausforderung war, diese Vielfalt zuzulassen, ohne dass einzelne Positionen verletzend wurden.“
Rössler-Schaake: „Viele unserer Schülerinnen und Schüler hatten eine weite Reise hinter sich – geografisch, sprachlich und kulturell. Sie mussten erst lernen, wie in einer offenen Gesellschaft diskutiert wird. Unser Unterricht war auch ein Stück Integrationsarbeit, ein Ort, an dem man Differenzen aushalten und Gemeinsamkeiten entdecken konnte.“
Wie sind Sie mit dem Nahostkonflikt im Unterricht umgegangen?
Schaake: „Seit dem 7. Oktober 2023 war der Unterricht belasteter. Viele Schülerinnen und Schüler waren stark von einseitiger Propaganda geprägt. Es war schwierig, Gespräche über Israels Geschichte zu führen. Kaum jemand wusste von der Shoah oder von Deutschlands besonderer Verantwortung gegenüber dem jüdischen Staat. Manche forderten, man müsse mit der Vergangenheit abschließen. Ich habe diese Gespräche als herausfordernd, aber notwendig erlebt.“
Rössler-Schaake: „Das Thema war sehr kräftezehrend. Es gab Schülerinnen und Schüler, die extremistische Aussagen machten, das Existenzrecht Israels leugneten. Gleichzeitig erlebte ich aber auch muslimische Jugendliche, die vermitteln wollten. Wir haben versucht, aufklärerisch zu arbeiten, aber auch Grenzen zu setzen. Antisemitismus ist kein rein kognitives Problem. Es braucht emotionale Bildung, Empathiefähigkeit – und klare Haltung.“
Was war Ihre Erfahrung, wenn Emotionen und politische Überzeugungen aufeinandertrafen?
Schaake: „Ich habe versucht, die Schülerinnen und Schüler ernstzunehmen und ihre Gefühle wahrzunehmen. Gleichzeitig habe ich Grenzen gesetzt, wenn Aussagen menschenverachtend wurden. Es war mir wichtig, einen geschützten Raum für ehrliche Gespräche zu schaffen – aber ohne Relativierung von Gewalt oder Hass.“
Rössler-Schaake: „Eine Schulpsychologin gab uns einen wichtigen Impuls: nach dem ,eigentlichen‘ Gefühl hinter einer äußerst problematischen Aussage zu fragen. Oft ging es um Verunsicherung, den Wunsch nach Heimat oder Würde. Das zu erkennen, war manchmal der Schlüssel zu einem echten Gespräch.“
Wie hat Ihre Zeit in Israel Ihre Arbeit geprägt?
Schaake: „Die Begegnung mit Holocaust-Überlebenden hat mich tief bewegt. Seitdem fühle ich eine lebenslange Verantwortung, Antisemitismus entgegenzutreten und die jüdische Perspektive im Unterricht sichtbar zu machen. Ich versuche, die enge Verbindung zwischen Christentum und Judentum zu vermitteln.“
Rössler-Schaake: „Unsere Zeit in Israel hat mein theologisches Denken stark geprägt. Die Frage nach Gott angesichts von Auschwitz kann nicht leichtfertig beantwortet werden. Es war mir ein Anliegen, die Geschichte der Kirche auch kritisch zu beleuchten und das Verbindende mit Judentum und Islam hervorzuheben.“
Was braucht es für einen echten Dialog im Klassenzimmer?
Schaake: „Mitfühlen, zuhören, den anderen wahrnehmen. Wenn Schülerinnen und Schüler begreifen, dass sie sich nicht bedrohen, sondern bereichern können, wird echter Dialog möglich. Der Blick auf Abraham als gemeinsame Wurzel hat oft geholfen.“
Rössler-Schaake: „Sympathie, Respekt und die Bereitschaft, auch mal das eigene Denken zu hinterfragen. Wenn Schülerinnen und Schüler uns fragten, ob wir konvertieren wollen, war das für mich ein Zeichen von Wärme – aber auch eine Anfrage an unsere eigene Klarheit.“
Wie haben Sie Ihre Rolle als Lehrkraft und Seelsorgende erlebt?
Schaake: „Viele Schülerinnen und Schüler haben mir vertraut und ihre Sorgen geteilt. Diese Gespräche waren oft intensiver als jede Unterrichtseinheit. Ich habe es als große Verantwortung empfunden, ihnen wirklich zuzuhören.“
Rössler-Schaake: „Die Kombination aus Seelsorge und Unterricht war stimmig. Die Schulleitung hat uns große Freiheiten gegeben, auch Gespräche während der Unterrichtszeit zu führen. Das Vertrauen im Kollegium war groß, und das war für uns sehr wertvoll.“
Was bleibt Ihnen besonders in Erinnerung?
Schaake: „Die vielen freundlichen Begrüßungen auf dem Schulflur, das Lächeln, die Offenheit der Schülerinnen und Schüler – das hat mir im Alltag Kraft gegeben. Besonders in Erinnerung bleiben mir aber auch die vielen Gespräche in schwierigen Situationen, in denen Schülerinnen und Schüler sich mit ihren Sorgen und Lebensgeschichten anvertraut haben. Diese Begegnungen waren tief und berührend. Es war bewegend zu spüren, dass Schülerinnen und Schüler uns als Menschen wahrgenommen haben, nicht nur als Lehrkräfte.“
Rössler-Schaake: „In Erinnerung bleibt mir, wie offen Schülerinnen und Schüler von ihren Lebensproblemen erzählten, von ihren Partnerschaften, von ihren Konflikten zwischen Tradition und Moderne. Manches Mal hatten wir den Eindruck, so etwas wie Elternersatz zu sein. Und gleichzeitig das Vertrauen, das man uns im Kollegium entgegenbrachte, wenn man zu uns kam, um uns Schülerinnen und Schüler zur Beratung weiterzugeben oder wenn Kolleginnen und Kollegen selbst für sich seelsorgliche Beratung suchten.
Besonders froh sind wir, dass wir es in den fünf Jahren unserer Tätigkeit hier keinen Schülerinnen- bzw. Schülersuizid gegeben hat, was aber sicher nicht nur an uns lag. Aber wir wussten, wie schmal für manche Schülerinnen und Schüler der Grad war, sich dem Leben zuzuwenden oder Abschied zu nehmen. Ich werde nicht vergessen, dass eine Schülerin mir einen Gegenstand gab und sagte: ,Solange dieses bei Ihnen aufgehoben ist, weiß ich, dass ich leben will.‘“
Was wünschen Sie den Schulen und sich selbst für die Zukunft?
Schaake: „Ich wünsche mir bessere Rahmenbedingungen, damit Lehrerinnen und Lehrer nicht ausbrennen und Schülerinnen und Schüler Schule als Lebensort erleben können. Der Umgang mit digitalen Medien braucht dringend neue Konzepte. Viele Schülerinnen und Schüler sind in ihrer Konzentration gestört und durch Social Media manipulierbar.“
Rössler-Schaake: „Ich hoffe, dass Schule ein Raum bleibt, in dem Bildung und Menschlichkeit zusammenkommen. Für mich persönlich wünsche ich mir Aufgaben, die mich erfüllen und in denen ich meine Erfahrungen einbringen kann.“
Schaake: „Und ich freue mich auf mehr Musik, Kunst und Bewegung – auf Chor, Klavier, Schlagzeug und internationalen Volkstanz. Ich bin gespannt, wohin mich diese neue Freiheit führen wird.“