„Mein Leben mit Lipödem und Lymphödem-Liplymphödem“ Ein Leben mit zwei Sack Kartoffeln an den Beinen

Wuppertal · „Du bist fett. Du frisst zu viel!“ Ihr Leben lang hörte Ramona Walter Sätze, die verletzen. Fast fing sie an, selbst daran zu glauben. Sie gab sich die Schuld an ihrem Äußeren. Dann stellte der Arzt ihr die Diagnose „Lipödem“.

 Ramona Walter und Heike Mühlenberg haben erst vor vier Jahren erfahren, dass nicht sie, sondern die Krankheit „Lipödem“ schuld an ihrem Äußeren ist.

Ramona Walter und Heike Mühlenberg haben erst vor vier Jahren erfahren, dass nicht sie, sondern die Krankheit „Lipödem“ schuld an ihrem Äußeren ist.

Foto: Wuppertaler Rundschau

Mit 14 Jahren veränderte sich der Körper der mittlerweile 34-Jährigen auf eine Art, die nicht mehr normal war für Mädchen in der Pubertät. Ihre Beine wurden immer dicker, bis sie nicht mehr zu den Proportionen ihres Körpers passten. Ihr Po ebenso. Sie fühlte sich schwer, es quälten sie Schmerzen. Jahrelang probierte sie sich durch verschiedene Diäten, bis ein Arzt vor vier Jahren ihr Leiden diagnostizierte: eine Fettverteilungsstörung im Oberschenkel- und Gesäßbereich.

Knapp vier Millionen Frauen in Deutschland leiden an einem Lipödem. Sie haben Schmerzen und Mühe, sich zu bewegen, sind berührungsempfindlich, bekommen schnell blaue Flecken und schaffen es trotz Diäten nicht abzunehmen. Männer sind davon nicht betroffen.

Vor einem Jahr rief Ramona Walter auf Facebook einen öffentlichen Blog ins Leben. Auf „Mein Leben mit Lipödem und Lymphödem-Liplymphödem“ postet sie Bilder und Texte über ihren Alltag mit der Krankheit. „Ich habe jahrelang gedacht, dass ich falsch essen und mich zu wenig bewegen würde. Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen, als ich erfahren habe, dass ich nicht schuld an meinem Aussehen bin“, sagt sie. Fast gleichzeitig überkam sie aber auch die niederschmetternde Erkenntnis: „Ich kann nichts dagegen machen, ich werde immer so aussehen.“

Zum Gespräch mit der Rundschau erscheint Ramona mit doppeltem Beistand: ihr neuer Rollator „Rasender Roland“ stützt sie, und ihre ebenfalls Lipödem-Betroffene Freundin Heike Mühlenberg steht ihr zur Seite. Dass Ramona bereits mit 34 Jahren mit Rollator unterwegs ist, macht ihr nichts aus. „Er gibt mir Sicherheit“, sagt sie, „ und er nimmt mir die Angst zu fallen.“ Jeden Tag fühlen sich ihre Beine so an, als hätte jemand zwei Sack Kartoffeln an sie gebunden. Das Gewicht lässt Ramona schnell ermüden, ihre Beine fangen an zu zittern. Ohne ihren „rasenden Roland“ hat sie Angst, alleine weite Strecken hinter sich zu bringen.

 Wie mit Stacheldraht umwickelt fühlen sich Ramona Walters Beine an. Das Bild auf Facebook macht ihren Schmerz sichtbar.

Wie mit Stacheldraht umwickelt fühlen sich Ramona Walters Beine an. Das Bild auf Facebook macht ihren Schmerz sichtbar.

Foto: Wuppertaler Rundschau

Mittlerweile steht fest, das Ramona nicht nur an einem Lipödem leidet, sondern auch an einem Lymphödem-Liplymphödem, an durch abgelagerte Flüssigkeiten im Gewebe verursachten Schwellungen. Eine Folgeerkrankung des zu spät behandelten Lipödems.

Um ihr chronisches Leiden zu therapieren, trägt die Wuppertalerin an Beinen, Armen und Händen Flachstrick-Kompressionen. Fast zehn Minuten braucht sie täglich, um sich in ihre „zweite Haut“ zu quetschen. Die Kompressionen verhindern eine Verschlimmerung des Lipödems. Ihre knielangen Jeans zeigen an den Waden knallpinke Kompressionsstrümpfe. Die geblümten T-Shirt-Ärmel enden auf hautfarbenem Flachstrick, die Hände stecken in schwarzen Kompressions-Handschuhen. Die Blicke der Passanten machen der 34-Jährigen nichts aus. Letztens kam ein Mädchen auf sie zu und sagte zu ihr: „Ich möchte auch so coole Handschuhe haben wie du.“

Sowohl Ramona als auch Heike Mühlenberg mussten feststellen, dass bis zu ihrer Diagnose nicht nur sie noch nie etwas von der Krankheit gehört hatten, sondern dass auch viele Ärzte nicht mit dem Krankheitsbild vertraut sind. Walter: „Anstatt ein Lipödem in Erwägung zu ziehen, verschreiben manche Mediziner Diäten und Bewegung.“ Oft müssten Patientinnen ihren Arzt selbst auf die Krankheit hinweisen.

Die Schmerzen, die Ramona Walter als 14-Jährige empfand, wurden als „Wachstumsschmerzen“abgestempelt, nur dass die Schmerzen nie wieder verschwanden. Ramona arrangierte sich damit. Im Juli postete sie zwei Fotos, auf denen ihre nackten Beine mit Stacheldraht umwickelt sind. „Diese Bilder zeigen in aller Deutlichkeit, was wir Lipödem-Betroffenen fühlen“, schreibt sie dazu.

Im August stellte sich die 34-Jährige mit nackten Beinen und kurzem Kleid an einen öffentlichen Ort in der Stadt. Auf ein Pappschild hatte sie geschrieben, was ein Lipödem ist und wie Betroffene sich fühlen. „Es gab viele Blicke und Umarmungen von fremden Menschen“, erzählt sie von der Aktion.

Zum Schlafen, sagt die 34-Jährige, würde sie sich oft am liebsten wie eine Fledermaus mit dem Kopf nach unten von der Decke hängen. „Denn auch das Liegen tut weh.“ Ihre Haut ist berührungsempfindlich. Bei der kleinsten Erschütterung breitet sich auf ihrem Körper ein Bluterguss aus. „Da muss mir nur eines meiner Kaninchen über die Beine hoppeln.“

Aber Ramona Walter und Heike Mühlenberg sind nicht nur krank, sondern auch mutig und voller Tatendrang. „Wir haben die Krankheit und nicht sie uns“, erklären sie mit Nachdruck. Kein bisschen Selbstmitleid schwingt in ihren Erzählungen mit. Wie Ramona hat auch Heike erst vor vier Jahren erfahren, dass sie an Lipödem leidet. Bis dahin quälte sich die 49-Jährige mit Diäten und ständiger Gewichtszunahme. Um sich nicht nur über die sozialen Medien mit anderen Frauen auszutauschen, gründeten die beiden Wuppertalerinnen die Selbsthilfegruppe „Lip-Ladys“. Dort sprechen sie über Therapien, ihren Alltag und darüber, das nach wie vor zu wenig Menschen und Ärzte über Lipödeme Bescheid wissen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort