„Mit tiefer Betroffenheit und großer Trauer wende ich mich als Wuppertaler Bundestagsabgeordneter an die Öffentlichkeit.
Der Brandanschlag vom 25. März 2024 auf ein Mehrfamilienhaus in Solingen hat eine junge türkisch-bulgarische Familie ausgelöscht: Vater Kancho (İsmail) Zhilov (29), Mutter Katya (Kıymet) Zhilova (28), ihre dreijährige Tochter und ihr fünf Monate altes Baby starben in den Flammen, während sie verzweifelt versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Das Treppenhaus – ihr einziger Fluchtweg – wurde mit Benzin in Brand gesetzt.
Gestern, am 30. Juli 2025, hat das Landgericht Wuppertal den Täter, Daniel S., zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Die besondere Schwere der Schuld wurde festgestellt. Damit erkennt das Gericht die Tat, als das an, was sie war: ein vorsätzlicher, heimtückischer, vielfacher Mord. Den Angehörigen wurde eine Entschädigung in Höhe von 2.000 bis 20.000 Euro zugesprochen.
Die Familie der Opfer, die als Nebenkläger auftrat, hat das Verfahren mit Würde, Stärke und beharrlichem Einsatz begleitet. Ihre Forderung ist klar und unüberhörbar: ADALET – das türkische Wort für Gerechtigkeit. Mit T-Shirts, Fotos und ihrer eindringlichen Präsenz im Gerichtssaal haben sie gezeigt: Diese Tat darf nicht vergessen, nicht relativiert und nicht unaufgeklärt bleiben.
Und doch zeigt der Verlauf des Verfahrens, wie viel Aufklärung noch aussteht. Durch Recherchen der Nebenklage wurde aufgedeckt, dass der Brandanschlag in der Wuppertaler Normannenstraße 2022 mit hoher Gewissheit von Daniel S. verübt wurde. Aus Wuppertaler Sicht und grundsätzlich ist eine lückenlose Aufklärung der Ermittlungsfehler zwingend, da dieser Anschlag vor drei Jahren als vermeintliche Folge eines Kabelbrandes zu den Akten gelegt wurde.
Trotz dokumentierter Funde von NS-Literatur, rassistischer Propaganda, rechtsextremen Inhalten auf elektronischen Geräten, einem Gedicht in der Garage und extremistischen Online-Suchverläufen wertete die Staatsanwaltschaft die Tat nicht als rassistisch motiviert. Diese Beweise wurden erst spät und auf ausdrücklichen Druck der Nebenklage hin ausgewertet – ein unerträglicher Zustand.
Noch gravierender: Ein Ermittlungsvorgang, in welchem dem Täter eine tiefe innere Verbundenheit mit rechtem Gedankengut bescheinigt wurde, soll nachträglich handschriftlich verändert worden sein. Gegen führende Polizeikräfte und Ermittlungsbeamte wurden inzwischen Strafanzeigen gestellt – wegen des Verdachts auf Vertuschung und Beweismittelunterdrückung.
Diese Entwicklung ist alarmierend. Sie erschüttert das Vertrauen in unsere Institutionen. Ein solcher Umgang mit Beweismitteln darf keinen Platz in einem Rechtsstaat haben. Ich fordere daher mit Nachdruck:
● Transparenz im gesamten Verfahren – für die Angehörigen, für die Öffentlichkeit und für unser demokratisches Selbstverständnis.
● Eine unabhängige Untersuchung möglicher rassistischer oder rechtsextremer Tatmotive – auch außerhalb der Gerichtsverhandlung.
● Die lückenlose Aufklärung behördlicher Versäumnisse, insbesondere im Umgang mit belastendem Material.
● Langfristige, verbindliche Unterstützung für die Hinterbliebenen – durch psychologische Betreuung, rechtliche Begleitung und würdiges Gedenken.
● Ein klares öffentliches Zeichen gegen Rassismus und rechte Gewalt – auf allen Ebenen unserer Gesellschaft.
Dieser Fall zeigt, dass die Forderungen des 2. Parlamentarischen Untersuchungsausschusses (PUA) zum NSU nicht hinreichend umgesetzt wurden. Das betrifft Verordnungen und Richtlinien zu rassistischen, menschenverachtenden Taten, aber vor allem deren praktische Umsetzung. Der Auftrag des Untersuchungsausschusses war: Sensibilisierung und Schulungen von Ermittlungsbehörden und Justiz, Berücksichtigung der Betroffenenperspektive und Einbezug der Erfahrungen der Praxis von Opferberatung.
All das ist in diesem Fall (wie auch in vielen anderen Fällen) nicht hinreichend erfolgt. Es muss künftig auch Aufgabe des Parlaments und des Bundesinnenministeriums sein, die Umsetzung dieser Aufträge des PUA und Lehren aus dem NSU stärken zu kontrollieren, auszuwerten und zu forcieren.
Als langjähriger Bundestagsabgeordneter weiß ich, wie tief solche Taten in die kollektive Seele unserer Stadt eingreifen. Der Brandanschlag auf eine türkischstämmige Familie im Jahr 1993, bei dem fünf Frauen und Mädchen getötet wurden, hat eine Wunde hinterlassen, die bis heute nicht verheilt ist. Der Mordanschlag von 2024 reißt diese Wunde erneut auf.
Solingen darf nicht die Stadt des mehrfachen Erinnerns an tödlichen Rassismus bleiben, sondern Wuppertal und Solingen müssen zu Städten des entschlossenen Handelns und der nachhaltigen Aufarbeitung werden.
Die gestrige Verurteilung ist ein Schritt zur Gerechtigkeit. Aber sie ist nicht das Ende. Gerechtigkeit endet nicht mit einem Urteil. Sie beginnt mit Wahrheit, mit Transparenz, mit Verantwortung – und mit dem festen Willen, aus dem Versagen der Vergangenheit zu lernen.
Ich werde mich weiterhin mit aller Kraft dafür einsetzen, dass die vollständige Aufklärung dieses Verbrechens gelingt. Nicht nur im Gerichtssaal, sondern auch in den Institutionen, in den Köpfen – und im kollektiven Gedächtnis unserer Gesellschaft.
Für Gerechtigkeit. Für die Würde der Toten. Für den Schutz der Lebenden.“