Neuer Intendant fürs Tanztheater Wuppertal „Einen kollektiven Wirbel entfesseln“

Wuppertal · Der Aufsichtsrat des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch hat am Donnerstag (21. Oktober 2021) den Tänzer und Choreographen Boris Charmatz einstimmig als neuen Intendanten des Tanztheaters Wuppertal Pina Bausch vorgeschlagen. Vorbehaltlich des formalen Beschlusses des Finanzausschusses der Stadt Wuppertal wird Charmatz die Leitung der Kompanie im September 2022 mit Beginn der neuen Spielzeit antreten.

 Der französische Tänzer und Choreograf Boris Charmatz wird ab September 2022 neuer Intendant des Wuppertaler Tanztheaters.

Der französische Tänzer und Choreograf Boris Charmatz wird ab September 2022 neuer Intendant des Wuppertaler Tanztheaters.

Foto: Christoph Petersen

Die Aufgabe von Boris Charmatz als Intendant des Tanztheaters besteht darin, neue Werke für das Ensemble zu kreieren und ihm dabei Raum für die künstlerische Freiheit zu geben. Er hat die Aufgabe, ein neues Fundament für die Arbeit zu schaffen, die mit dem Werk von Pina Bausch verbunden wird.

Dem Beschluss vorausgegangen war die Arbeit einer Findungskommission aus Experten, Vertretern der Stadt Wuppertal, des Landes Nordrhein-Westfalen und des Ensembles. Unter dem Vorsitz von Bürgermeister Heiner Fragemann gehörten der Kommission Dr. Rolf-Jürgen Köster (Stadt, Aufsichtsrats-Mitglied), Bruno Heynderickx (Hessisches Staatsballett Darmstadt Wiesbaden), Claire Verlet (Programmleitung Tanz, Théâtre de la Ville, Paris), Ruth Amarante und Christopher Tandy als Tänzer und gewählte Ensemble-Vertreter sowie Bettina Milz vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen an.

In einem aufwändigen Verfahren fanden Gespräche mit führenden internationalen Choreographen und Künstlern statt. Am Ende fiel das Votum der Findungskommission einstimmig für Boris Charmatz. Dem schloss sich der Aufsichtsrat jetzt ebenfalls einstimmig an.

Aus Sicht der Verantwortlichen bringt Boris Charmatz auf besondere Weise all das mit, was für den Zukunftsprozess erforderlich ist: Mut und eine starke künstlerische Arbeit, in der er sich immer wieder neu erfindet, strategische Klarheit, Sensibilität und Respekt für das herausragende Werk von Pina Bausch und das Ensemble, ein internationales Netzwerk und eine sehr fundierte Expertise in den Künsten.

„Der gesamte Findungsprozess wurde in engem Austausch mit dem Ensemble realisiert. Für alle ist dieser Schritt in die Zukunft wichtig. Bei der Suche nach einer neuen künstlerischen Leitung waren es die Arbeitsstrukturen, die die Künstlerin Pina Bausch selbst geschaffen hat, die wir als Erbe betrachten und für die es neue Horizonte im 21. Jahrhundert zu schaffen gilt. Diese Arbeit war geprägt von künstlerischem Mut und der Suche nach unbekanntem Terrain, von der Reise als Form der Neugier auf die Menschen, die Künste und Kulturen dieser Welt. Es war auch ihr tiefer Humanismus, der die besondere Wirkung der Werke ausgemacht hat. Und die Perspektive auf den Körper und die Bewegung, die nicht nur den Tanz, sondern auch das Theater und die Künste insgesamt verändert hat“, erklären Ruth Amarante und Christopher Tandy: „Es war die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen, die Interdisziplinarität und nicht zuletzt eine starke Teilhabe aller Menschen in der Gesellschaft an der herausragenden Kunst.“

Boris Charmatz ist Tänzer und Choreograf. Er zählt weltweit zu den wichtigsten Erneuerern der Tanzkunst. Seine Arbeiten sind auf den großen Bühnen und Festivals der ganzen Welt vertreten, er war Associated Artist beim Festival D`Avignon 2011, Gast der Pariser Oper, hat eng mit Ausnahmekünstlern wie Anne Teresa De Keersmaeker, Meg Stuart, Tino Seghal und vielen anderen internationalen Künstlern zusammengearbeitet.

Neben seinen Bühnenarbeiten hat er Stücke und Performances im öffentlichen Raum vieler Städte sowohl in Frankreich wie auch in Europa präsentiert, zuletzt in Manchester, Berlin und Brüssel. Er hat seine Arbeit in bedeutenden Museen gezeigt, so im MoMA in New York, der Tate Modern in London und auf der Triennale von Mailand. Boris Charmatz zeichnet sich dadurch aus, dass er in seinen Arbeiten stets künstlerische Risiken eingegangen ist, dabei den Tanz gewürdigt, erneuert, ihn kühner gemacht hat.

Darüber hinaus ist die Bewahrung der choreografischen Geste einer der Schwerpunkte der Arbeit von Boris Charmatz. Unter seiner Leitung wurde das Centre Choréographique de Rennes et de Bretagne zwischen 2009 und 2018 zum lebendigen „Musée de la danse“. Denn im Gegensatz zu anderen Künsten kann Tanz nur bewahrt werden, wenn er verkörpert wird. Deshalb bringt Boris Charmatz aus der Sicht der Verantwortlichen der Kommission exzellente Voraussetzungen mit, um Repertoire und neue Kreationen zu verbinden, diesen beiden Säulen des Tanztheater Wuppertal Raum zu geben und sie gemeinsam zum Erfolg zu führen.

„Mit Boris Charmatz ist es uns gelungen, eine Künstlerpersönlichkeit für Wuppertal zu gewinnen, die internationale Ausstrahlung mit einer tiefen Lust verbindet, das Erbe Pina Bauschs mit einem Neuaufbruch für das Ensemble zu verbinden. Das große Interesse, sich dabei gleichzeitig auf die besondere Qualität der Wuppertaler Geschichte einzulassen, macht Boris Charmatz zur idealen Wahl“, sagt Wuppertals Oberbürgermeister Uwe Schneidewind.

Wie auch Salomon Bausch mit der Pina Bausch Foundation und dem Archiv sieht Boris Charmatz seine Aufgabe mit dem Ensemble als ein Zukunftslabor für den Tanz. Aus der Geschichte, dem Werk, der herausragenden Arbeit Pina Bauschs, aber auch der Folkwang-Tradition insgesamt, gilt es Neues für die Kunstform wie auch für die Gesellschaft zu entwickeln.

Eine neue Verantwortung, die Boris Charmatz mit Enthusiasmus angeht: „Pina Bausch zeigt uns den Weg: In einer post-industriellen Umgebung arbeiten, die Jungen und die Älteren bei der Arbeit am Repertoire integrieren... Sich niemals mit dem Erreichten zufrieden geben… Unerwartete Gesten jenseits der ästhetischen Erwartungen erfinden… Risiken nicht scheuen… Das Ensemble hat in seiner Arbeit bereits eine neue Entwicklung gezeigt: Choreografen wurden eingeladen, Kinder haben in Wuppertal getanzt, der Parkplatz neben dem Schauspielhaus und der Skulpturenpark wurden für hochrangige Künstler zur neuen Bühne. Ich bewundere das sehr; vielleicht bewundere ich noch mehr die unglaubliche Energie, die die Kompanie seit zwölf Jahren, menschlich und künstlerisch zeigt, um diese Kunst unter Beteiligung aller hoch zu halten. Wuppertal ist Ort der Avantgarde, ich will dorthin laufen und dort bleiben. Und gemeinsam entfesseln wir einen kollektiven Wirbel, der die Kreation befördert.“

Boris Charmatz will das Ensemble zu einer Tanzkompanie entwickeln, die sich als ein binationales deutsch-französisches Projekt versteht, in dem sich besonders das Land Nordrhein-Westfalen und die Region Hauts-de-France verbinden. Diese beiden Regionen sind kulturell und politisch gekennzeichnet durch die industrielle Revolution, von dem einschneidenden Ende des Kohleabbaus und der Textilindustrie, ebenso durch die damit verbundenen Migrationsbewegungen. Das Ensemble bleibt in Wuppertal beheimatet, und die Zusammenarbeit mit dem zweiten Arbeitsstandort in Frankreich ermöglicht es, ein lebendiges Projekt über Fragestellungen einer europäischen Zusammenarbeit ins Leben zu rufen.

Die Zukunft des Tanztheaters besteht sowohl in der Konzentration auf das bestehende Werk als auch auf Neuschöpfungen: Die kühne und angemessene Verbindung der Arbeit der Erneuerin des Tanzes Pina Bausch und der Pflege ihres Repertoires mit der choreografischen Arbeit von Boris Charmatz erlaubt die Öffnung neuer Horizonte.

NRW-Kulturministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen: „Pina Bausch hat eines der bedeutendsten künstlerischen Werke der letzten 100 Jahre geschaffen, das ausgehend von Nordrhein-Westfalen weltweite Wirkung entfaltet hat. Das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch soll auch in Zukunft ein starker Ort für die Tanzkunst und die Choreografie sein, an dem das besondere kulturelle Erbe Pina Bauschs lebendig und erfahrbar bleibt. Dies kann nur gelingen, wenn eine herausragende Künstlerpersönlichkeit diese Arbeit verantwortet und in die Zukunft trägt. Mit seinem gleichermaßen innovativen wie sensiblen Umgang mit der Geschichte des Tanzes bringt Boris Charmatz beste Voraussetzungen mit, um dieser Aufgabe gerecht werden zu können.“

Das künftige Pina Bausch Zentrum, das 2027 eröffnet werden soll, wird die zukünftige Basis sein. Die Aufgabe von Boris Charmatz besteht darin, gemeinsam mit den anderen Akteuren das Projekt zu entwerfen, Impulse zu setzen, seine Arbeiten zwischen Repertoire und Kreation zu entwickeln und die bauliche Entwicklung des Ortes zu verfolgen.

Das Pina Bausch Zentrum wir ein Ort der Bewahrung und Entwicklung dieses nationalen und internationalen Kulturerbes sein. Und weil das Werk von Pina Bausch nur durch die Pflege ihres Repertoires in Verbindung mit einer künstlerischen und kreativen Recherche und neuen Kreationen erhalten werden kann, wird es für kommende Generationen nur zugänglich sein, wenn es vom Tanztheater und anderen großen Ensembles getanzt wird und so in die Zukunft wirkt.

„Mir ist es wichtig, dass die Kompanie nun wieder von einem Choreografen geleitet wird“, so Salomon Bausch, Gründer und Vorstandsvorsitzender der Pina Bausch Foundation. „Ich bin sehr neugierig auf die künstlerischen Impulse für das Ensemble und für Pinas Stücke. Mit Blick auf die Zukunft und das Pina Bausch Zentrum werden wir gemeinsam Grundlagen für die langfristige Qualität und Verbreitung des Werks meiner Mutter schaffen.“

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