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Top Wuppertal: Zu Besuch bei Ed Kortlandt

Top Wuppertal : Zu Besuch bei Ed Kortlandt

Es ist ein nasskalter Maimorgen, als ich am Hauseingang den Klingelknopf mit dem Aufdruck „Kortlandt“ betätige. Ein graumelierter Herr, den ich auf höchstens Mitte 60 schätze, öffnet die Tür. Es ist Ed Kortlandt persönlich, der mich in sein elegantes, geschmackvoll eingerichtetes Haus bittet.

Kaum schließt sich hinter mir die Tür, erscheint Nero auf der Bildfläche, Ed Kortlandts grauer, in die Jahre gekommener, zahnloser Kater. Er umstreicht meine Beine, betrachtet mich und folgt uns geräuschlos in den Wohn-Essbereich. Wir nehmen dort Platz und Nero legt sich – wie selbstverständlich – auf den Esszimmertisch, um mich, bis zum Ende des Interviews, unaufdringlich, aber stetig zu beobachten.

Ed Kortlandt, danach befragt, wie er zum Tanz gekommen ist, erzählt, dass er, Kind eines Universitätsprofessors und einer Ärztin, sein Tanz-Schlüsselerlebnis als Achtjähriger während eines Ferienaufenthalts in einem Jugendfreizeitlager hatte. Der Leiter des Camps tanzte mit seiner Tochter Polka – und schon wechselt Ed Kortlandt zu Pina Bauschs Choreografie „Nelken“, in der alle Tänzerinnen und Tänzer erzählen, wie sie zum Tanz kamen. Von der Bühne herab erfahren wir also später diese Anekdote, die seine große Leidenschaft für den Tanz weckte.

Von nun an bestimmte der Folkloretanz einen Teil seiner Freizeit, bis er sich mit 16 Jahren auch dem klassischen Ballett zuwandte. Ein liberales Elternhaus stellte dem heranwachsenden Ed nichts in den Weg. Er sollte seine Erfahrungen selber machen. Neben dem Tanz spielte die Musik, vor allem die Querflöte, eine wichtige Rolle. Das klassische Ballett erlernte er in einer privaten Tanzschule, wo er Mascha ter Weeme (1902 bis 1995, eine der Gründerinnen der niederländischen Tanzkunst und Leiterin des „Ballet der Lage Landen“) unterrichtete.

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Doch mit dem Abitur stand für Ed Kortlandt erst einmal fest, dass er es seiner Mutter gleichtun wollte. Zwei Jahre war er als Medizinstudent an der Universität seiner Heimatstadt Amsterdam eingeschrieben. Ed erkannte dann aber recht schnell, dass die Arbeit in der Klinik, mit ihren hierarchischen Strukturen, kaum mit seinem ausgeprägten Freiheitsdrang in Einklang zu bringen war und dass ihm die Vorstellung schwer fiel, den größten Teil seines Lebens mit kranken Menschen zu tun zu haben. Mit dem Studienabbruch musste Ed Kortlandt erst einmal den Militärdienst nachholen, um 1967 mit dem Musikstudium am Konservatorium Amsterdam (Querflöte, Klavier und Musiktheorie) und der Tanzausbildung an der Scapino Tanzakademie (Amsterdam) beginnen zu können. Auch wenn es zur damaligen Zeit selten war, dass sich ein Mann für den Bühnentanz entschied, drückten Militärkameraden und der persönliche Freundeskreis ihr vollstes Verständnis für den gewählten Berufsweg aus.

Kortlandt beendete 1969 mit einer dem heutigen Bachelorabschluss vergleichbaren Prüfung das Musikstudium, um nur noch zu tanzen. Ineke Sluiter (1932-1993) engagierte ihn (1969-72) in die neu gegründete Compagnie für zeitgenössischen Tanz, dem Danscentrum Rotterdam. Sluiter sah 1969 bei einem Tanzwettbewerb in Köln Pina Bauschs Stück „Im Wind der Zeit“, für das sie mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde. Diese Choreografie faszinierte Sluiter so sehr, dass sie Pina Bausch bat, das Stück in Rotterdam einzustudieren. So weit zurück also, genauer gesagt, vier Jahre vor Gründung des Tanztheaters Wuppertal (1973), lag Ed Kortlandts erster Kontakt zu der damals in Essen arbeitenden, noch unbedeutenden Entwicklerin des modernen Tanztheaters.

 Entspannung in der Mittagssonne (1974): Malou Airando, Ed Kortlandt, Pina Bausch und Dominique Mercy.
Entspannung in der Mittagssonne (1974): Malou Airando, Ed Kortlandt, Pina Bausch und Dominique Mercy. Foto: Ed Kortlandt

Trotz dieser Entwicklung entschied Ed Kortlandt, sich 1972 für das Zahnmedizinstudium an der Universität Utrecht einzuschreiben. Vor dem Semesterbeginn belegte er, sozusagen als Abschluss seiner Tanzkarriere, noch einmal einen Tanzkurs in Köln, wo ihm – das Schicksal wollte es offensichtlich anders – ein Vertrag bei der damals weltberühmten Martha Graham Dance Company in New York angeboten wurde. Kortlandt konnte es kaum fassen, denn diese Gelegenheit war einmalig, wie ein Sechser im Lotto. Und so war mit der Vertragsunterzeichnung die Medizin endgültig abgeschrieben.

Der 27-Jährige fühlte sich total wohl, war endlich angekommen und genoss, in seiner spartanisch möblierten Bude, in einer Dreierwohngemeinschaft in „Little Italy“, das pulsierende Leben in Lower Manhattan. Nicht nur, dass er bei Martha Graham tanzte, sondern er unterrichtete, über seine Kontakte zu Pearl Lang (1921-2009), auch als Gastlehrer in der nicht minder bekannten Alvin Ailey School. In dieser sehr intensiv gelebten Zeit im Big Apple, erreichte Ed Kortlandt eines Tages ein Brief aus Essen. Pina Bausch bat ihn eindringlich, zurück nach Europa zu kommen, um Tänzer ihres neu zu gründenden Tanztheaters in Wuppertal zu werden.

Nun war es wieder an ihm, abzuwägen und erneut eine nachhaltige Entscheidung für seine Tanzzukunft zu treffen. Die hohe Qualität der Bausch-Arbeit, die Kortlandt bereits in Rotterdam schätzen gelernt hatte, gab schließlich den Ausschlag für seine Entscheidung, fortan mit der 32-jährigen Kurt-Jooss-Schülerin zusammenzuarbeiten. Die Koffer wurden 1973 gepackt und ab ging es, mit American Airlines, zurück nach Europa. Er tanzte dann als vertraglich engagierter Solotänzer in den Bausch-Inszenierungen „Iphigenie“ (1974), „Orpheus und Eurydike“ und „Frühlingsopfer“ (1975), „Die sieben Todsünden“ (1976) oder auch „Blaubart“ (1977). Die intensive Probenarbeit in einem tageslichtlosen Raum (Lichtburg), die meist um 10 Uhr morgens begann und, bis auf eine Mittagspause, oft erst um 22 Uhr endete, das vorbehaltlose Geben von Persönlichem, die alle stark fordernde hohe Konzentration, die große Zahl neuer Choreografien und vor allem der damit verbundene Verlust sozialer Kontakte außerhalb der Kompagnie, führten schließlich dazu, dass Kortlandt bei Pina um eine sechsmonatige Auszeit bat. „Ich brauchte eine Pause, fertig!“

1991 verließ Ed Kortlandt das Tanztheater Wuppertal, um als Direktor der Tanzakademie Rotterdam, dem Vorläufer der heutigen Codart-Kunsthochschule, seine Arbeit aufzunehmen, verließ das Haus aber nach zwei Jahren wieder. „Ich wollte etwas ändern, den Bühnentanz in der Ausbildung und Präsentation vertiefen. Das war mir aber, auf Grund fehlender Unterstützung, nicht möglich. Darum habe ich nach zwei Jahren gesagt: Tschöö, macht es alleine weiter.“

 Ed Kortlandt, seit über 45 Jahren Wuppertaler, war Tänzer, Direktor der Rotterdamer Tanzakademie und langjähriger Assistent von Pina Bausch.
Ed Kortlandt, seit über 45 Jahren Wuppertaler, war Tänzer, Direktor der Rotterdamer Tanzakademie und langjähriger Assistent von Pina Bausch. Foto: Karl-Heinz Krauskopf

Im Frühjahr 1994 kam Ed Kortlandt dann wieder zurück ans Tanztheater Wuppertal, wurde Assistent von Pina Bausch und war Nachfolger von Hans Pop in dieser Funktion. Wie schwer diese Tätigkeit sein würde, sollte er sehr schnell erfahren. Kortlandt wurde zum Schattenmann, zum verlängerten Arm von Pina, der immer da war, bei den Proben, im Büro, bei den Tourneen oder auch bei den offiziellen Social Events. Pina erarbeitete ihre Stücke in der Lichtburg, der auch heute noch von der Außenwelt fast hermetisch abgeschotteten Ideenschmiede ihrer Choreografien. Hier befragte sie die Kompagnie immer wieder respektvoll, wer welche Ideen zu einem von ihr gestellten Thema, zu einer ihrer Fragen vortragen oder tänzerisch vorstellen könne. Aus diesen Fragmenten entwickelte Pina Bausch Szenen und Blöcke mit denen sie eine neue, abendfüllende Inszenierung aufbaute.

Diese für Bausch typische Arbeitsweise, alle immer stark fordernd, dabei aber respektvoll und wertschätzend, unterschied sich völlig von den hergebrachten Ballettinszenierungen, wo Geschichten und Musik bereits existierten, an denen sich die zu entwickelnden Choreografien orientieren mussten. Pina Bausch schuf den Rahmen für die einzelnen Elemente, das Bühnenbild, die Musik und die Lichtstimmungen. Sie sorgte für den Welterfolg ihrer facettenreichen Tanztheaterstücke.

Ed Kortlandts tänzerische Funktionen waren sehr vielfältig. Er war Trainings- und Probenleiter und das weit über seine 1999 beendete Zeit als Bausch-Assistent hinaus. „Kontakthof 65+“ wurde von ihm anfangs betreut bevor Jo Ann Andicott und Bénédicte Billiet seine Funktion übernahmen. Und heute? Da ist er immer noch auf der Bühne präsent, wenn auch nicht mehr als Tänzer. Er dirigiert in „Arien“ vom Bühnenrand aus mit einem Walkie Talkie die beiden Schwerstarbeit leistenden Männer im tapsenden Nilpferd, spielt in „Palermo, Palermo“ eines der sechs Pianos, macht in „1980“, im hinteren Bühnenbereich an einem Harmonium sitzend – so Kortlandt lachend – „Pling Pling“ und erarbeitet in „Viktor“ die Rollen der Statisten. Das alles, so sagt er schmunzelnd, halte ihn „jung und lebendig“.

Da wirkt es nicht übertrieben, wenn er betont, dass er an vielen Kulturveranstaltungen Wuppertals rege teilnehme, aktiv wie passiv. Nachgefragt, was das denn bedeuten würde, steht Ed Kortlandt auf und spielt mir auf dem mit wunderschönen Intarsien verzierten Sassmann-Cembalo ein Stück von György Ligeti (1923-2006) vor. Die Geschichte dazu beginnt wieder in seiner Jugend: Er wollte mit 16 Jahren ein Kirchenorgelpositiv bauen und las dazu die vorhandene Literatur. Diesen Gedanken musste er jedoch schnell fallen lassen. Erst 2004 griff er die Idee wieder auf. Er wollte jetzt nicht mehr ein Orgelpositiv bauen, sondern, mittels Bausatz eines amerikanischen Anbieters, ein Cembalo. Da erwähnte Mathias Burkert, der musikalische Leiter des Tanztheaters, die Firma Sassmann, einen Cembalobauer in Hückeswagen. Nach einem ausführlichen Gespräch mit den Experten vor Ort war klar: Selber machen geht gar nicht. Seitdem spielt und stimmt Kortlandt sein Sassmann mit viel Liebe und Hingabe. Wer aber glaubt, das genüge ihm, der kennt den umtriebigen Ed noch nicht. Er spielt virtuos Blockflöten, eröffnet immer mal wieder musikalisch die Vernissagen seiner künstlerisch sehr aktiven Ehefrau Cornelia und spielt regelmäßig, last but not least, in einem Wuppertaler Barock-Ensemble.

Und wer jetzt denkt, da geht nichts mehr, der irrt: Denn Ed Kortlandt ist auch begeisterter Motorradfahrer und das nicht nur bei schönem Wetter. Wie kam es zu dieser Leidenschaft? 1981, es war nach einer Aufführung in Avignon, standen sie zusammen, Tänzerinnen und Tänzer der Kompagnie, um zu plaudern, zu rauchen und sich zu regenerieren. Das abgestellte Motorrad eines Tänzers zog seine Aufmerksamkeit auf sich und aus Jux fragte Kortlandt, ob er damit mal eine Runde drehen könne. Gefragt, erlaubt, getan. Mit Helena Pikon auf dem Sozius ging es daraufhin 20 Minuten durch die Gassen von Avignon. „Es war, als ob ich das Meer zum ersten Mal gesehen hätte“, schwärmt er heute noch von diesem Ausflug. Konsequent wie er immer war, machte Kortlandt dann zu Hause den Motorradführerschein, verkaufte sein Auto und war mit dem Erwerb einer gebrauchten Maschine ab jetzt ein eingefleischter Motorradfreak, der Sommer wie Winter das Zweirad nutzt.

 Ed Kortlandt – 1990 als Pylades in „Iphigenie auf Tauris“ (Uraufführung 1974).
Ed Kortlandt – 1990 als Pylades in „Iphigenie auf Tauris“ (Uraufführung 1974). Foto: Ed Kortlandt

Diese Freiheiten immer leben zu können, nennt Kortlandt ein großes und ihn erfüllendes Glück. Er kommt damit auf den Anfang des Gesprächs zurück und erinnert, dass er sich ja bewusst für die künstlerische Karriere und gegen lukrativere, aber den künstlerischen Freiraum stark einschränkende Berufe entschieden habe, um sich seine Herzenswünsche erfüllen zu können. Und wenn er Pina Bausch nicht bereits 1969 begegnet wäre, deren Arbeit ihn schon damals stark beeindruckte, dann hätte er auch nicht die Tanzlaufbahn eingeschlagen und seine Freiheiten leben können.

Als wir vom Tisch aufstehen, springt auch Kater Nero geschmeidig und leise miauend vom eingenommenen Beobachtungsplatz auf und verschwindet lautlos. Wir verabschieden uns und verlassen gemeinsam das Haus. In Motorradkluft und mit Helm wird Ed Kortlandt einer seiner Herzensangelegenheiten nachgehen: Er dreht, trotz des kühlen Vormittages, mit seiner Triumph eine Runde durch das Bergische Land.