Interview mit Helge Lindh und Martin Schulz SPD: „Natürlich sind wir eine Volkspartei“

Wuppertal / Berlin · Es sind schwierige Zeiten für die Sozialdemokratie. Vor einer Woche waren die SPD-Bundestagsabgeordneten Martin Schulz und Helge Lindh in der Oberbarmer Immanuelskirche, um über die Situation ihrer Partei und die Zukunft Europas zu sprechen. Rundschau-Mitarbeiter Jan Turek unterhielt sich ausführlich mit Schulz und Lindh.

 Helge Lindh (li.) und Martin Schulz.

Helge Lindh (li.) und Martin Schulz.

Foto: Jan Turek

Rundschau: Herr Schulz, Sie sind zum zweiten Mal in relativ kurzem Abstand in Wuppertal. Was sind Ihre Eindrücke?

Martin Schulz: Wuppertal ist – wie viele nordrhein-westfälische Städte – herausgefordert, strukturelle Veränderungen abzufangen und dabei sozialen Zusammenhalt zu bewahren. Es ist eine Industriestadt im Wandel, mit all den damit verbundenen Problemen. Aber Wuppertal ist auch in ganz vielen Bereichen ein innovativer Standort – wirtschaftlich, wissenschaftlich und kulturell.

Rundschau: Herr Lindh, würden Sie sagen, dass sich Wuppertal in die richtige Richtung entwickelt?

Helge Lindh: Man könnte es so zusammenfassen, dass Wuppertal so etwas wie ein Reallabor ist, das ziemlich gut die zentralen Fragen, die Gesamtdeutschland betreffen, zeigt: Den Strukturwandel, aber auch Innovation und Erneuerung. Man sieht es hier mit der Nordbahntrasse, Utopiastadt, mit vielen Start-Ups und der sehr der modernen Universität. Andererseits gibt es auch Brüche: Langzeitarbeitslosigkeit, Armut und die Frage der Migration. Wie unter einem Brennglas finden sich zentrale Fragen Deutschlands hier gebündelt. Das macht die Stadt auch so spannend, und deshalb ist das Wuppertal-Institut auch begeistert, diesen Standort zu haben.

Rundschau: Wir sind hier in Oberbarmen, einem sozialschwachen Stadtbezirk. Kriminalität ist hier ein großes Thema. Erst kürzlich wurde unweit von hier ein 70-Jähriger von zwei 14-Jährigen Mitgliedern der sogenannten „Gucci-Gang“ fast totgeprügelt. Würden Sie abends über den Berliner Platz gehen?

Lindh: Ich mache das regelmäßig. Schon bevor ich Bundestagsabgeordneter war, bin ich viel in Oberbarmen gewesen und jetzt auch immer wieder. Ich war nicht verängstigt. Mir machen ehrlich gesagt andere Drohungen mehr Angst. Aber ich weiß schon, dass Sicherheit in Oberbarmen eine riesige Frage ist und, dass es auch für Viele unsicherer geworden ist. Und gerade diese Entwicklungen in der organisierten Kriminalität, die sich hier abzeichnen, erfordern dringende Beobachtung und Handeln. Es wäre fahrlässig, die Sicherheitsfrage in Wuppertal zu vernachlässigen.

Rundschau: Haben Sie konkrete Ideen, was getan werden könnte, um die Situation zu verbessern und den Menschen ihre Angst zu nehmen?

Lindh: Show-Aktionen nutzen nichts. Videoüberwachung ohne die Präsenz von Polizei vor Ort ist nicht sinnvoll. Die Polizei vor Ort ist von zentraler Bedeutung. Und entsprechende Netzwerke müssen verbessert werden – Ordnungspartnerschaften zwischen Vereinen, Sozialarbeit, Polizei, Initiativen gegen Extremismus. Und auch Migration und Perspektivlosigkeit sind Faktoren, die Kriminalität befördern – nicht nur auf Seiten der Täter. Auch viele Opfer sind zugewandert.

Rundschau: Was will die SPD für bessere Integration tun?

Schulz: Wir sind als Partei schon seit jeher für eine offene und tolerante Gesellschaft. Und das ist die Grundvoraussetzung für Integration. Ich war viele Jahre Bürgermeister einer Stadt, die ähnliche Probleme hatte, eine klassische Post-Montan-Stadt mit einem hohen Anteil an zugewanderter Bevölkerung. Für mich läuft Integration über drei Begriffe: Sprache, Arbeit, Freundschaft. Wer die Sprache eines Landes beherrscht, hat es leichter in diesem Land. Wer die Sprache beherrscht findet schneller Arbeit. Wer die Sprache beherrscht und Arbeit hat, findet Freunde. Wer Arbeit hat, sprechen kann und Freunde hat, wird integriert. Was machen wir mit vielen jungen Männern, die Asyl suchen? Wir lassen sie nicht arbeiten. Wir müssen ihnen die Sprache beibringen und sie arbeiten lassen – ob sie am Ende eine Asyl-Anerkennung bekommen oder nicht, ist dabei zunächst eine sekundäre Frage. Wir machen uns oft in der deutschen Gesellschaft die Integrationsdebatte viel zu schwer. Noch einmal: Erstens: den Leuten helfen, die Sprache zu erlernen – über die Sprache lernt man übrigens auch die Kultur eines Landes kennen; zweitens: sie arbeiten lassen. Das muss man ganz praktisch sehen. Wenn ich ein Mensch bin, der hier seit Jahrzehnten lebt, sein ganzes Leben lang arbeiten gegangen ist und seine Rente verlebt und nebenan sitzen zwanzig junge Männer und tun nichts, dann denk ich mir „Naja, und die bezahl‘ ich jetzt auch noch“ – So denken die Leute ja. Wenn diese Leute aber sehen, dass die jungen Menschen arbeiten gehen –wird der Nachbar, der es gesehen hat – egal wie er zu denen steht – sagen „Wenigstens arbeiten die“. Was die SPD vor allem tun muss, ist ihre Kommunen stärken und in den Kommunen diese Idee – Sprache, Arbeit, Freundschaft – umsetzen.

Lindh: Ein gutes Beispiel, worauf es da ankommt und das belegt, dass es im Grunde einfach ist: Als wir eben am Hauptbahnhof angekommen sind, sind vier junge Mädchen – alle etwa 16 Jahre alt und mit sogenanntem Migrationshintergrund – hergekommen, waren ganz begeistert und wollten ein Foto mit Martin Schulz. Woran liegt‘s? Meine These: Dass er nie fragt „Wo kommst du eigentlich her?“. Sie haben nicht den Eindruck, dass es darauf ankommt, welche Herkunft ihre Eltern haben. Es geht darum, ob sie hier anerkannt werden. Das macht den Unterschied: Das Gefühl, nicht anerkannt zu sein, ist eine Ursache für viel Frustration, Enttäuschung und Probleme.

Schulz: Viele junge Männer mit türkischen Wurzeln, die hier geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen sind – sind Deutsche, die hier ihre Familien gründen und Kinder haben, hier arbeiten und Steuern zahlen: Warum verehren die Erdogan? Weil Erdogan ihnen den Respekt gibt, den unsere Gesellschaft ihnen oft verweigert.

Rundschau: Herr Lindh, Sie sprachen eben den Hauptbahnhof an. Es gibt dort noch einige Leerstände, das Outlet-Center fand keine Mieter und an der Poststraße wimmelt es von Ein-Euro-Läden. Sind Geschäfte in Wuppertal unrentabel? Fehlt vielleicht die Kaufkraft?

Lindh: An dem Outlet-Center-Projekt hatte ich von Anfang an Zweifel. Es war nicht wirklich solide. Wir haben grundsätzlich das Problem, dass wir hier eine Bevölkerung haben, die nicht so kaufkräftig ist, wie die in anderen Städten. Die, die kaufkräftig sind, wollen oft nach Düsseldorf und anderswo hin gehen. Das ist ein grundsätzliches Problem des Einzelhandels hier, das noch verstärkt wird durch Onlinehandel. Es gibt ja Versuche wie „Online-City“,die es aber gegenüber den oft steuerflüchtigen Internetgiganten extrem schwer haben. Man muss Konzepte entwickeln, wie man hier attraktiven Einzelhandel – der zur Nische zu werden droht – noch etablieren kann und den, den wir noch haben, zu bewahren. Wir müssen gezielte Projekte entwickeln für die Elberfelder und auch die Barmer Innenstadt.

Rundschau: Es gibt ja Städte, zum Beispiel im Ruhrgebiet, die den Strukturwandel besser überstanden haben. Wurden in Wuppertal Fehler gemacht?

Schulz: Leerstände von Geschäften in Innenstädten gibt es überall, auch in prosperierenden Städten. Die Ursache ist genau das, was Helge gerade beschrieben hat: Der Einzelhandel leidet unter der Verlagerung von Konsum-Strategien, zum Onlinehandel. Die Einzelhändler zahlen Steuern aber Amazon zahlt keine Steuern. Ich glaube, dass wir dem Einzelhandel helfen würden, wenn wir diese Unternehmen besteuern. So fällt ein Wettbewerbsnachteil für den Einzelhandel endlich weg. Zum anderen muss man Städten auch Zeit geben. Der Strukturwandel hat in Dortmund oder Bochum auch zu einem viel früheren Zeitpunkt begonnen, als hier. Bei mir in der Stadt ist die Zeche 1969 geschlossen worden. Bis 1989, zwanzig Jahre später, hatten wir von den 3.500 Arbeitsplätzen, die da wegfielen, erst die Hälfte kompensiert. In der Wahlperiode zwischen 89 und 94 – da war ich Bürgermeister –, kam die Deutsche Einheit und dann holten wir im Schub der Deutschen Einheit den gesamten ökonomischen Rest nach. Man muss auch für Wuppertal sehen: Strukturwandel braucht mehrere Jahrzehnte.

Rundschau: Herr Lindh, Sie sind jetzt schon eine Weile als Mitglied des Bundestages in Berlin. Ist es so, wie Sie es erwartet hatten?

Lindh: Ich bin in Berlin, aber auch noch ganz viel in Wuppertal – in jeder freien Minute. Ich bin ehrlich gesagt ohne große Erwartungen nach Berlin gegangen, weil ich nicht über den Tag der Wahl hinausdenken wollte. Ich habe mich einfach mit vollem Elan und vollem Einsatz hineingestürzt. Ich habe den Eindruck, da angekommen zu sein und mich von Beginn an nicht versteckt zu haben, sondern den Mund aufgemacht zu haben.

 Die Immanuelskirche war gut besucht.

Die Immanuelskirche war gut besucht.

Foto: Jan Turek

Rundschau: In Ihren Reden haben Sie sich immer wieder deutlich gegen Fremdenfeindlichkeit positioniert und die AfD kritisiert. Warum?

Lindh: Das ist mein politisches Grundverständnis. Unsere Demokratie kommt aus den Trümmern des Nationalsozialismus. Es kann nicht sein, dass in deutschen Parlamenten Rassismus und völkisches Denken wieder Einzug halten – und das unwidersprochen. Die Folgen sehen wir heute in Form der explodierenden rechtsextremen Gewalt.Ich finde nicht, dass „Schweigen und Ignorieren“ eine Strategie ist. Die brauchen klaren Widerspruch. Die Demokratie muss in aller Deutlichkeit ihre Entschiedenheit sichtbar machen und laut formulieren. Das ist für mich der einzig ethisch vertretbare Weg.

Rundschau: Und warum engagieren Sie sich für die Seenotrettung?

Lindh: Das liegt daran, dass ich mich seit vielen Jahren mit Fragen der Migration auseinandersetze. Aber auch wenn ich das nicht getan hätte, ist das eine elementar-humanitäre Frage. Es geht da um Menschenleben. Wir können nicht Menschen sterben lassen. Wir können nicht die politische Uneinigkeit Europas auf dem Rücken von Geflüchteten auf dem Meer austragen. Es ist menschlich geboten und es braucht politische Lösungen. Am Beispiel der Seenotrettung sieht man, sehr zugespitzt, wie weit leider Europa noch von einer gesamteuropäischen Strategie in Sachen Asyl und Zuwanderung entfernt ist.

Rundschau: In den sozialen Medien offenbart sich massiver Hass gegen solche Positionen. Erschreckt Sie das?

Schulz: Ich habe im Juli 2003, vor 16 Jahren, im Europaparlament den damaligen italienischen Premierminister Berlusconi kritisiert, der damals schon mit der Lega Nord regierte – das weiß heute ja fast keiner mehr – und habe die italienische Regierung damals als eine rassistische Regierung bezeichnet. Ich habe fremdenfeindliche Politik angeklagt. Ich war in der meiner ersten Wahlperiode im Europaparlament, zwischen 1994 und 19999, innenpolitischer Sprecher meiner Fraktion. Ich habe auf europäischer Ebene in den Bereichen gearbeitet, in denen heute Helge Lindh im Bundestag arbeitet. Ich könnte heute meine Reden von damals, zur Außengrenzen-Sicherung, zum Asylrecht oder zur Verteilungsquotendebatte – wenn ich das Datum verändern würde – heute wieder halten. Es hat sich nichts getan, außer, dass sich die Probleme verschärft haben. Deshalb bin ich Helge Lindh sehr dankbar. Er ist ein neuer Abgeordneter im Bundestag. Und das ist ein Grund, warum ich ihn unterstütze. Helge ist ein Abgeordneter, der Klartext redet und bei dem die Menschen spüren, dass er aus Überzeugung handelt. Überzeugte Menschen, die eine klare Linie haben, ziehen allerdings den Hass der extremen Rechten auf sich. Das mache ich seit über 25 Jahren schon mit. Ich habe es als Bürgermeister erlebt, in einer Asyldebatte Ende der 80er Jahre, als wir in meiner Stadt viele Flüchtlinge aus Afrika hatten. Ich kenne diesen Hass. Was mich erschreckt, ist, wie weit mittlerweile die Tabubrüche in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen sind. Viel schlimmer als die offenen Nazis, die du ja identifizieren kannst, sind die in Nadelstreifen, die Gaulands dieser Erde, die in wohlgesetzten Worten die plumpen Parolen in vornehmerer Attitüde vortragen.

Rundschau: Finden Sie, dass Frau Merkel, die Sie ja oft kritisieren, für ihre Position in der Flüchtlingsdebatte, die sie ja auch unionsintern oft verteidigt hat, mehr Respekt verdient hätte?

Schulz: Das ist ein Punkt, wo Angela Merkel großen Respekt verdient. Und ich habe ihr in dieser Frage größten Respekt gezollt. Ich will daran erinnern, dass die Partei, die in der Flüchtlingsfrage am meisten zu ihr gehalten hat, nicht die CDU oder die CSU waren, sondern die SPD. Was einen dann aber verbittert, ist, dass Angela Merkel in ihren Reden während des Bundestagswahlkampfes – während ich immer ihre Flüchtlingspolitik anerkannt habe – kein einziges Mal die Unterstützung durch die SPD gewürdigt hat und uns als regierungsunfähig bezeichnet hat. Diese Art von Politik finde ich nicht gut. In der Flüchtlingsfrage hat sie klare Haltung bewiesen. Allerdings ist auch Angela Merkel nicht frei von Fehlern: Das Miteinbeziehen anderer Länder in deutsche Strategien wäre früher nötig gewesen. Und es gibt einen zweiten Punkt. Darum fordere ich sie heute wieder auf: Die Bundesrepublik Deutschland ist der größte Nettozahler in der Europäischen Union. Und die Länder, die am meisten aus dem Haushalt bekommen, nehmen keinen einzigen Flüchtling auf. Ich hoffe, dass die Bundesregierung die Kraft aufbringt, zu sagen „Der nächste Haushalt der Europäischen Union muss ein solidarischer sein“, und dann die Verteilung von Strukturmitteln, von Agrarfonds-Mitteln verknüpft mit der solidarischen Verteilung von Flüchtlingen. Dann haben wir nämlich nicht die Probleme, die wir jetzt gerade mit „Sea Watch“ haben.

Rundschau: Wenn man sich Ihre Partei im Angesicht der zahlreichen Wahlniederlagen anschaut: Ist die SPD noch eine Volkspartei?

Schulz: Klar. Umfrageergebnisse sind keine Wahlergebnisse. Das Wahlergebnis bei der Bundestagswahl war 20,5 Prozent. Es war kein gutes Wahlergebnis, aber wir wären heute froh, wenn wir es hätten. Wenn die Grünen bei 20,5 liegen, schreiben alle „Die Grünen sind die neue Volkspartei“. Also, natürlich sind wir eine Volkspartei. Es geht nicht um die Anzahl an Stimmen, sondern um die Frage, ob eine Partei in unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus andocken kann. Und das kann die SPD nach wie vor.

Lindh: Ich glaube, dass es die SPD momentan schwer hat, liegt gerade daran, dass sie von der Prägung her eine Volkspartei ist. Das kann man zum Beispiel am Thema Migration durchspielen oder auch am wirtschaftlichen Wandel: Die SPD vertritt eben einerseits diejenigen, die durch sozialdemokratische Bildungspolitik aufgestiegen sind und erfolgreich sind und auch sehr migrationsfreudig sind und sehr flexibel, anderseits eben auch diejenigen, die hart kämpfen müssen und Ängste haben – vor Abstieg, die aber dann auch Zweifel haben hinsichtlich Migration und Globalisierung. Die SPD begreift sich als Brücke. Momentan sind wir aber eher in Zeiten, in denen Parteien sich für eine oder die andere Seite entscheiden. Wer versucht, das zusammenzuhalten hat es schwer. Die Aufgabe ist aber dringender denn je.

Schulz: Wir leben in einer Entweder-Oder-Zeit. Man ist entweder für Klimaschutz oder für „Wir retten den Diesel“. Die SPD ist aber eine Sowohl-Als-Auch-Partei. In Entweder-Oder-Phasen, sind Sowohl-Als-Auch-Parteien in einer schwierigen Lage. Die Lösungen in der Demokratie kommen aber nicht über Entweder-Oder, sondern über Sowohl-Als-Auch. Und deswegen, glaube ich, werden wir ein ambitioniertes Klimaschutzgesetz verhandeln müssen, das Umwelt und Wirtschaft als zwei Seiten der gleichen Medaille abbildet.

Rundschau: Wofür steht die SPD im Jahr 2019? Gibt es große Visionen?

Schulz: Die SPD muss Europa zu ihrem Thema machen, denn wenn wir in Deutschland ein Klimaschutzgesetz durchsetzen, dann gilt das in Deutschland. Aber der Player, der in der Welt den Klimawandel bewältigen muss, ist die Europäische Union. Und deshalb muss die SPD den nächsten Schritt machen. Die Grünen beschreiben Themen. Wir sollten die Lösungen liefern. Ein europäisches Klimaschutzgesetz. Wir brauchen die Besteuerung von Amazon, Google, Apple und Facebook als Gerechtigkeitsfrage. Eine europäische Körperschaftsteuer, einen Eurozonen-Haushalt, einen europäischen Finanzminister, der eine Mindestbesteuerung von Unternehmen in Europa auch durchsetzt, damit wir uns keine ruinöse Steuerkonkurrenz liefern. Und vor allem glaube ich, dass wir bei der Verteilung der Finanzen in der Europäischen Union die Flüchtlingsfrage verknüpfen müssen mit der Finanzierungsfrage. Dass die größten Nettoempfänger diejenigen sind, die in der Flüchtlingspolitik die Solidarität verweigern, geht nicht. Deshalb glaube ich, wenn die SPD sich in der zweiten Jahreshälfte drei Themen zu Eigen macht: eine pragmatische Klimapolitik, die europäisiert ist, eine gerechte Steuerpolitik, die europäisiert ist und eine solidarische Flüchtlingsverteilung, die über europäische Finanzierung herbeigeführt wird – dann können wir sagen „Andere beschreiben die Probleme, Wir liefern die Lösung“.

Lindh: Hinter diesen drei Feldern stehen soziale Fragen, die als Ausgangspunkt die Gerechtigkeit haben. Ein Nichthandeln beim Klimaschutz oder eines, das elitär ist, bestraft diejenigen, die finanziell und sozial schlechter dastehen. Im Ursprung ist es eine Gerechtigkeitsfrage. Genauso ist es im steuerlichen Bereich und genauso ist im Bereich der Migration. Immer droht, dass die, die am meisten ringen, gegeneinander ausgespielt werden. Deshalb sind es alles drei – national und global betrachtet – elementare Gerechtigkeitsfragen.

Rundschau: Im Kern steht also die Frage nach sozialer Gerechtigkeit?

Schulz: Die SPD steht für eine Internationalisierung der Problemlösungen. Es ist interessant, dass die Partei Die Grünen Probleme von globaler Dimension beschreibt. Ich höre von denen aber keine globalen Strategien. Die SPD ist eine Europapartei. Übrigens können wir im Europäischen Parlament als Teil der sozialistischen Fraktion mehr bewegen als zum Beispiel eine grüne Fraktion. In Europa gibt es eine ganze Reihe sozialdemokratischer Regierungen, die interessanterweise, wenn sie auf diese drei Punkte gesetzt haben – Klima, Steuergerechtigkeit, Bewältigung der Migration, Wahlen gewonnen haben – etwa in Schweden, Dänemark oder Spanien. Ich glaube, dass die SPD sich das Europathema zu Eigen machen muss. Wir sind eine Partei der sozialen Gerechtigkeit nach innen und eine Partei der globalen Lösungsstrategien durch Europa nach außen. Wir haben ein Europa-Kapitel verhandelt im Koalitionsvertrag, der übrigens die Überschrift trägt „Ein neuer Aufbruch für Europa“. Ich habe nach meinem Rücktritt als Parteivorsitzender lange gezögert, ob ich im Deutschen Bundestag bleiben soll. Ich bin im Bundestag geblieben, weil ich will, dass wir diesen Teil des Koalitionsvertrages durchsetzen. Wir stellen das Außenminister, stellen den Finanzminister, stellen die Umweltministerin. Das heißt, wir haben auch die Instrumente. Man muss in diesem Zusammenhang aber einen harten Satz sagen: Die Bremser sitzen in der Partei von Frau Merkel. Und Angela Merkel äußert sich zu diesen Themen selten mal konkret.

Rundschau: Herr Schulz, Sie sind offensichtlich ein überzeugter Europäer. Was kann getan werden, um eine Europäische Identität zu stärken?

 Engagiert: Martin Schulz.

Engagiert: Martin Schulz.

Foto: Jan Turek

Schulz: Man muss Menschen Angst nehmen. Es gibt ganz viele Leute, die glauben, die Europapolitik würde ihnen ihre nationale Identität klauen wollen; die glauben, sie müssten ihre Sprache und ihre Kultur aufgeben. Das ist völliger Quatsch. Nur für deine Sprache und deine Kultur kriegst du im 21. Jahrhundert keine soziale Sicherheit. Und unser Stolz auf Beethoven und Kant löst kein einziges Klimaproblem. Wir müssen unser nationales Erbe, unser kulturelles Erbe und unsere nationalen Identitäten bewahren. Aber wir müssen sie ergänzen – und zwar überall dort, wo der Nationalstaat alleine nicht mehr handeln kann und seine Bürger nicht mehr schützen kann. Viele begreifen eins nicht: Wir sind ein großes Land. Ja. Wir haben 82 Millionen Einwohner. China hat 1,4 Milliarden. Trotzdem sind wir die drittgrößte Industrienation der Welt. Wir sind ein Handelsgigant. Aber versetzen Sie sich mal in die Lage eines Bürgers im Nachbarland Belgien. Belgien ist ein ganz kleines Land. Die Europäische Union besteht aus einer Vielzahl kleiner Länder und ein paar Ländern, die noch nicht begriffen haben, dass sie eigentlich kleine Länder sind. Und deshalb glaube ich, dass wir den Leuten die Angst davor nehmen müssen, dass Europa ihnen was wegnimmt und ihnen das Gefühl vermitteln müssen, dass Europa ihnen was dazugibt. Ich mache es mal ganz praktisch: Wenn der brasilianische Staatspräsident Bolsonaro sagt „Ich holze die Regenwälder ab“, ist das ein schwerer Verstoß gegen das Klimaschutzabkommen. Wenn die Europäische Union ihm sagt: „Dein Tropenholz kannst du behalten. Auf den europäischen Markt kommt keiner, der nicht das Klimaschutzabkommen einhält“, dann schützt Europa das Klima. Von daher glaube ich, dass die Lösung in der globalen Zeit, in der wir leben, nicht in der Renationalisierung, sondern in der Europäisierung liegt.

Rundschau: Welche Gefahren sehen Sie in der Renationalisierung?

Schulz: Ich glaube nicht, dass es in Europa wieder Krieg geben wird. Aber die, die so reden wie die, die im letzten Jahrhundert den Krieg herbeigeführt haben, die gibt es noch immer und die reden auch heute noch genauso. Warum sind die wahrscheinlich nicht erfolgreich? Weil es Europa gibt. Weil es den Europäischen Gedanken gibt und eine Struktur der Kooperation, die es unmöglich macht, Krieg miteinander zu führen. Und jetzt gibt es die, die Europa zerstören wollen. Wenn wir die Geister, die wir gebannt haben, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit – wenn wir die nicht unter Kontrolle halten durch grenzüberschreitende Kooperation, dann setzen wir diese Dämonen der Vergangenheit wieder frei.

Rundschau: Glauben Sie, dass die SPD zu wenig „links“ ist? War die Agenda 2010 ein Fehler?

Schulz: Ich glaube, dass die Agenda 2010 uns viele Stimmen gekostet hat. Aber es macht keinen Sinn immer rückwärts zu diskutieren. Das Meiste ist längst korrigiert. Wuppertal feiert nächstes Jahr das 200. Geburtsjahr von Friedrich Engels. Wir könnten auch darüber noch diskutieren. Wann hört diese Partei endlich auf, retrospektiv zu debattieren? Es geht nicht um die Fehler des vergangenen Jahrzehnts. Es geht um die Strategien für das nächste Jahrzehnt. Frieden sichern, Umwelt schützen, Wohlstand in Gerechtigkeit und die Demokratie verteidigen.

Lindh: Selbstmitleid, Selbstrechtfertigung, Hinterherweinen sind keine Strategien des Erfolgs, machen eine Partei nicht attraktiv und nützen Menschen, mit konkreten, aktuellen Problemen überhaupt nichts. Deshalb tut die SPD gut daran, wenn sie aus dieser Selbstbeschäftigungsfalle rauskommt und Handlungsfähigkeit zeigt. Denn das ist etwas, was andere Parteien nicht anbieten. Die Grünen zum Beispiel treten mit großem moralischen Anspruch auf, werden dann aber sehr wortkarg, wenn es um die pragmatische Umsetzung geht. Das mag Eindruck machen. Es geht aber darum, Ergebnisse zu bieten und das ist unsere verdammte Pflicht und Aufgabe.

Rundschau: Hat die SPD den Kontakt zur Jugend verloren?

Lindh: Sicherlich. Es geht aber nicht darum, einen jugendlichen Habitus nachzuahmen. Jemand wie Martin Schulz ist auch spannend für junge Leute – nicht, weil er berufsjugendlich sein will, sondern weil er eine Haltung hat. Und das Video von Rezo war nicht so erfolgreich, weil es in einem neuen Medium geschickt gemacht war, sondern weil jemand die Fragen, die für junge Menschen brennend sind, gestellt hat. Das ist der Punkt. Wir müssen uns nicht modisch dem anpassen, aber begreifen, dass die Fragen, die wir als zentral erachtet haben, vielleicht für die Jüngeren nicht entscheidend sind.

Schulz: Junge Leute mögen nichts weniger als Ranschmeißer. Die spüren rein intuitiv, ob jemand ihnen nach dem Mund redet. Du musst deine Linie behalten. Ich sage in jeder Debatte, die ich mit jungen Leuten über den Klimawandel habe, „Ich halte das für eine zentrale Frage der Generationengerechtigkeit. Nicht ich und meine Generation, aber vielleicht meine Enkelkinder müssen die Zeche zahlen. Das ist so. Aber ich kann euch auch nicht versprechen, dass wir morgen die Kohlekraftwerke abschalten, und ich kann nicht versprechen, dass wir es schaffen bis 2030, weil ich nicht weiß, ob wir die erneuerbaren Energien in dieser Zeit in diesem Maße ausbauen können.“ Deutschland hat sich entschieden, Folgendes zu tun: Innerhalb der nächsten 19 Jahre vollständig aus der Atomenergie und aus der Kohle auszusteigen, bei steigendem Energiebedarf. Wenn es uns, als drittgrößte Industrienation der Welt, gelingt, diesen Kraftakt zu vollbringen, und trotzdem ein wachsender Industriestaat sein zu können, wären wir das Modell für die Erde. Dann werden andere Länder sagen „Was die Deutschen können, müssen wir auch können“. Deshalb finde ich es so falsch zu versuchen, den verständlichen Zorn der jungen Leute durch Ranschmeißen zum Verstummen zu bringen. Wenn wir bis 2038 schaffen, was wir beschlossen haben, dann sind wir Weltmeister. Wenn wir es früher schaffen umso besser. Aber ich habe meine Zweifel, ob wir es früher schaffen. Ich wäre um jedes Jahr froh. Lass uns 2030 anstreben. Aber wenn wir es 2035 schaffen, sind wir immer noch Weltmeister. Deshalb glaube ich, muss man sagen, dass es ein „Man to the Moon“-Projekt ist, das wir in Deutschland vorhaben.

Rundschau: Sie waren Präsident des Europäischen Parlaments, Kanzlerkandidat, dann gab es den großen Hype und nun sind Sie „nur“ Mitglied des Bundestags. Wünschen Sie sich manchmal, Sie wären Kanzler oder Außenminister geworden?

Schulz: Ich wollte Kanzler werden und ich wollte Außenminister werden. Die Antwort Auf diese Frage ist natürlich „Ja“. Beim Kanzler hat das Wahlvolk es verhindert, beim Außenminister meine eigene Partei. Da muss ich mit leben. Aber ich würde Sie bitten, über das Wort „nur“ nachzudenken. Das Mandat eines Abgeordneten ist das höchste Amt, das du in diesem Staat kriegen kannst, denn der Deutsche Bundestag ist der Souverän und nicht die Bundesregierung. Ich bin nicht „nur“ Bundestagsabgeordneter. Ich bin stolz darauf, dass ich Bundestagsabgeordneter bin.

Rundschau: Haben Sie denn trotzdem noch Ambitionen auf Ämter? Können Sie ausschließen, dass sie sich auf das Amt des SPD-Vorsitzenden bewerben werden?

Schulz: Ich werde mich nicht um das Amt des SPD-Vorsitzenden bewerben. Das ist ganz klar.

Rundschau: Würden Sie jemanden vorschlagen?

Schulz: Wir haben ein Verfahren beschlossen und bis zum 1. September ist Zeit, sich zu bewerben. Und ich glaube, es wird ein lebhaftes Bewerberfeld werden. Wir sollten diese Phase nutzen um über die Themen, über die wir gesprochen haben, zu reden. Was ist die Klimapolitik der SPD? Was ist die Steuerpolitik der SPD? Was ist die Migrationspolitik der SPD? – Auf nationaler und europäischer Ebene. Dazu müssen die Leute Aussagen machen. Dann kriegen wir den Laden auch ans Laufen.

Rundschau: Was halten Sie vom Doppelspitzenkonzept?

Schulz: Wenn sich zwei Leute zusammenschließen, die gut miteinander auskommen, dann ist das eine super Sache. Wenn du aber eine Doppelspitze hast, die in zwei verschiedene Richtungen laufen will, dann löst das nicht unser Problem, sondern verschärft es. Deshalb hoffe ich, dass sich Leute zusammenfinden werden, die auch gut harmonieren. Ansonsten ist es eben möglich, dass eine Person an die Spitze der Partei gewählt wird.

Rundschau: Warum lohnt es sich, in der SPD aktiv zu sein? Was treibt Sie an?

 Zwei Stühle, eine Meinung.

Zwei Stühle, eine Meinung.

Foto: Jan Turek

Schulz: Wir sind seit 1863 die Demokratie-Kraft in diesem Land. Wir haben alles überlebt und wir werden auch diese Krise überleben. Die Idee der Sozialdemokratie ist ein ganz einfach: dass Menschen auf gleicher Augenhöhe, im gegenseitigen Respekt die Gesellschaft formen – keiner Herr und keiner Knecht. Wir sind nicht die Gesellschaft der Gleichen, aber die der Gleichberechtigten. Und diese Idee der sozialen Demokratie ist dauerhaft.

Lindh: Mein Verständnis von Sozialdemokratie ist, dass jeder Einzelne zählt – egal welcher sozialen oder ethnischen Herkunft; dass Menschen selbstbestimmt leben können; dass nicht die Gruppenzugehörigkeit diktiert, was für ein Schicksal sie haben, sondern dass sie das in der eigenen Hand haben. Wir dürfen nicht wegschauen, sondern müssen die Bedingungen schaffen, damit Menschen selbstbestimmt, erfolgreich und glücklich leben können. Das ist der Gedanke, der mich antreibt.

Rundschau: Herr Schulz, was wenn Sie sich selbst im Frühjahr 2017, in der Mitte des Schulz-Hypes treffen könnten: Was würden Sie Ihrem jüngeren Ich raten?

Schulz: Ich würde zwei Fehler nicht wiederholen: Erstens würde ich mir nicht einreden lassen, dass die Leute nicht über Europa diskutieren wollen, sondern meine Europa-Linie durchziehen – was ich eigentlich wollte. Ich habe mich aber von Meinungsforschern und sonstigen Strategen davon abbringen lassen. Und zweitens würde ich in Nordrhein-Westfalen Wahlkampf machen, unabhängig von der nordrhein-westfälischen Landtagswahl-Kampagne. Und, was ich gleich machen würde, ist dem Hype misstrauen. Ich war einer der Wenigen in der SPD, die gesagt haben „Das ist nicht normal. Man gewinnt nicht innerhalb von einer Woche zehn Prozent dazu. Leute, bleibt auf dem Teppich.“ Außerdem: 100Prozent--Ergebnisse sind ein Fluch. Du kannst nicht hundert Prozent der Wünsche erfüllen. Das geht nicht.

Rundschau: War Ihr Hin und Her, in Bezug auf die GroKo, auch ein Fehler?

Schulz: Es waren einstimmige Beschlüsse des SPD-Parteipräsidiums. Aber es ist einer Reihe von Personen gelungen, so zu tun, als ob es die private Entscheidung von Martin Schulz war. Und sie hatten nichts damit zu tun. Es war ja keine private Entscheidung von mir. Das Präsidium der SPD hat nach Intervention von Frank-Walter Steinmeier bei allen Parteivorsitzenden und nach meinem Bericht über meine Gespräche mit dem Bundespräsidenten einstimmig beschlossen, Sondierungsgespräche mit der CDU aufzunehmen. Es ist gelungen, den Zorn einer Minderheit in der Partei darüber auf eine Person zu kanalisieren. Damit muss ich leben. Dagegen habe ich mich sicher nicht genug gewehrt.

Rundschau: Sie sind gegen die GroKo. Wären Sie denn für ein Grün-Rot-Rotes Bündnis?

Schulz: Wenn wir eine Regierung mit den Grünen und der Partei Die Linke anführen können, bin ich zu hundert Prozent immer dafür.

Rundschau: Und wenn Sie sie nicht anführen könnten?

Schulz: Die Frage will ich mir gar nicht stellen.

Rundschau: Im Moment sähe es ja so aus.

Schulz: Ja, die Neigung von Journalisten und Beobachtern, Meinungsumfragen für die Realität zu halten, die verstehe ich. Aber die Haltung von Politikern muss immer sein, dass die einzige Meinungsumfrage, die zählt, die am Wahltag ist. Deswegen interessieren mich Meinungsumfragen nicht. Mein Ziel ist es, dass die Sozialdemokratische Partei Deutschlands die nächste Bundesregierung anführt. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: Ein enger Freund von mir ist Frans Timmermanns, der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten bei der Europawahl. Die Niederländische Sozialdemokratie lag bei acht Prozent. Am Ende haben sie die Wahl gewonnen. Also Leute, lasst mal die Füße auf der Erde. Noch ist Robert Habeck nicht im Kanzleramt. Und über Hypes kann ich mich mit den Grünen gerne unterhalten. Wenn du Projektionsfläche für jedes und alles bist. Der Habeck reagiert übrigens genauso, wie ich damals reagiert habe, und sagt „Leute, bleibt auf dem Teppich. Das kann auch morgen anders sein.“

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort