Das Taltontheater (TTT) zeigt aktuell diesen dramatisch-komischen Stoff um Gedächtnis- und Beziehungsverlust. Es geht um Michael (Denny Pflanz), der seit drei Wochen im Koma liegt. Seine Mutter Carol (Tabea Schiefer – extrem verändert mit grauer Kurzhaarperücke und faltigem Gesicht) sowie sein Partner Paul (Moritz Dee) wachen an seinem Bett. Sie machen aus ihrer gegenseitigen Abneigung keinen Hehl. Verbaler Schlagabtausch vom Fein(d)sten zum Vergnügen des Publikums.
Als Michael endlich erwacht, erkennt er Paul nicht mehr. 4.000 Tage, also fast elf Jahre, fehlen ihm. Carol nutzt die Chance, um ihren Sohn von seiner Beziehung mit Paul „zu heilen“.
Regisseur Benjamin Breutel zieht in seiner Inszenierung alle Register. Neben drei großartigen Ensemble-Mitgliedern setzt er auf ein Bühnenbild mit Farbkonzept, das in den Kostümen Widerhall findet. Umrahmt wird jede neue Szene von Musik, die klar anfängt und dann in ein dumpfes Fadeout übergeht – ganz so, wie man es im Halbschlaf wahrnehmen könnte.
Die Bühne ist ein beiges Krankenzimmer. In der Mitte steht ein Krankenbett, helle Bezüge, darin Michael. Bunt sind hingegen die wenigen Möbel: Der Stuhl, auf dem Carol sitzt, ist blau, der von Paul rot. Der Beistellwagen ist gelb. Das Blau findet sich genau in Carols Hose wieder, die an der Seite gelbe Streifen hat und wie eine Dompteur-Hose im Zirkus aussieht. Dazu passen die Oberteile mit Raubtiermuster.
Carol ist einerseits die Tigerin, die ihr Junges beschützt, gleichzeitig die Dompteurin, die ihm ihren Willen aufzwingen will. Tabea Schiefer spielt sie genervt und bissig, aber auch ein wenig bemitleidenswert.
Paul hingegen ist ein Langeweiler und Karrieretyp. Dunkler Anzug und Krawatte, deren rote Streifen zum Stuhl passen. Unter dem weißen Hemd blitzt ein rotes T-Shirt hervor. Er würde gern auf den bequemeren blauen Stuhl, doch Carol lässt ihn nicht. Eine Retourkutsche, denn im wahren Leben fühlt sie sich von ihrem Platz verdrängt. Schließlich legt Paul sich zu Michael ins Krankenbett.
Moritz Dee gibt seinen Paul als sensiblen Mann, der sich kaum gegen die übergriffige Mutter behaupten kann. Aber richtig sympathisch kommt dieser Typ ebenfalls nicht rüber. Kein Wunder, dass Michael die letzten Jahre vergessen will. Einzig er scheint ein netter Mensch zu sein, obwohl er selbst das nicht glaubt.
Denny Pflanz hat mit Michael wieder eine seiner Paraderollen als Muttis Liebling. Dass dieser ruhige junge Mann von allen Seiten fremdbestimmt wird und ihn das quält, vermittelt Pflanz allein mit einem Blick.
Er versucht auszubrechen, indem er an die beige Zimmerwand ein buntes Gemälde malt. Das ist für sich schon so interessant, dass die Aufmerksamkeit der Zuschauer manches Mal dorthin wandert, um das Bild zu deuten. Somit bietet diese Theater-Produktion verschiedene künstlerische Ebenen.
Mit „4.000 Tage“ hat das Taltontheater ein weiteres Stück im Repertoire, in dem es um Zwischenmenschliches geht und Wortgefechte die Handlung bestimmen. 135 Minuten (mit Pause) guter Unterhaltung machen den Besuch wertvoll. Es bleibt am Schluss zudem die Erkenntnis, dass man sich nicht an alles im Leben erinnern muss.