Bergische Uni Wuppertal „Unterschiedliche Temperaturen in Räumen zulassen“

Wuppertal · Prof. Dr.-Ing. Christoph Grafe von der Bergischen Uni Wuppertal über den „Dämmungswahn“ im Baugewerbe.

Prof. Dr.-Ing. Christoph Grafe leitet seit 2013 den Lehrstuhl für Architekturgeschichte und -theorie an der Bergischen Universität.

Prof. Dr.-Ing. Christoph Grafe leitet seit 2013 den Lehrstuhl für Architekturgeschichte und -theorie an der Bergischen Universität.

Foto: UniService Transfer

40 Prozent der Energie in Deutschland wird derzeit im Gebäudebereich verbraucht, zwei Drittel davon allein von privaten Haushalten. Wenn die Bundesregierung ihre Klimaschutzziele nicht verfehlen will, ist das eindeutig zu viel. Gebäudesanierungen sollen da Abhilfe schaffen. Doch ist das Abdichten der Außenwände und die Komplettversiegelung der Fußböden, durch die kein Luftstrom mehr zirkulieren kann, auf lange Sicht der richtige Weg? Der Architekt Prof. Christoph Grafe sieht das kritisch und fragt: „Benötigen wir wirklich in allen Räumen die gleiche Temperatur?“

Die sogenannte Ertüchtigung von Gebäuden, sprich das Dämmen, hat in Deutschland Hochkonjunktur. Behagliche Temperaturen in allen Räumen scheinen das Gebot der Stunde zu sein, wobei einige Aspekte dabei nicht zwangsläufig für die gesamte Republik oder alle Menschen gelten.

„Ich würde in Frage stellen“, sagt Grafe daher, „ob die ganze Bundesrepublik gleich behandelt werden kann, was die Frage der baulichen Anpassungen betrifft. Wenn man sich die Wetterkarte ansieht, dann zeigen sie für Wuppertal, Freiburg, Köln oder Bremen im Winter wie im Sommer deutlich andere Temperaturen, als im Osten der Republik. In manchen Regionen gibt es kaum Frostnächte, in anderen kann es schon mal richtig kalt werden. Die traditionellen Bauweisen in den Regionen waren immer auf diese Unterschiede zugeschnitten: Im Nordwesten ist es windig, aber selten kalt. Dann ist eher eine gute Regenhaut gefragt als ein dicker Wollmantel. Das sieht man auch an der Weise, wie dort gebaut wurde.“

Ebenso müsse man auch das unterschiedliche Kälte- und Wärmeempfinden der Menschen bedenken. Nicht jeder Raum muss daher im gleichen Maß gedämmt werden. „Ich würde dazu plädieren, dass wir unterschiedliche Temperaturen im Innenraum zulassen, schon allein deswegen, weil wir nicht in allen Räumen das Gleiche tun. Wir sollten daher auch auf unsere unterschiedlichen Aktivitäten achten. Selbst die Funktion von Körperwärme oder das Tragen von warmer Kleidung ist ein Teil von Strategien der Anpassung, die in Vergessenheit geraten sind. Die Häuser, die heute gebaut werden, in denen die Haustechnik mehr als die Hälfte der Baukosten verschlingt, sind übertechnisiert. Ist das wirklich überall nötig?“

Problemkind Nachkriegsbau

Insgesamt beläuft sich der Gebäudebestand in Deutschland auf circa 21 Millionen Gebäude, die sich in Nutzung, Wärmebedarf, Energieverbrauch etc. unterscheiden.
Ein nicht unerheblicher Teil davon, zumal in Nordrhein-Westfalen, besteht aus Nachkriegsbauten, die zwischen 1950 und 1975 entstanden sind. „Bei diesen Gebäuden liegen tatsächlich Defizite vor. Oft wurden sie mit damals neuen industriellen Materialien gebaut. Sie haben relativ dünnere Wände als ältere Häuser und weisen viele Kältebrücken auf. Eine Dämmung dieser Bauten erfordert damit eine sorgfältige Planung und wird durchaus finanzielle Anstrengungen kosten. All dies bringt neue Probleme mit sich, denkt man an die Millionen Einfamilienhäuser die ab 1965 gebaut wurden, die dauerhaft bewohnbar gemacht werden müssen“, erklärt der Fachmann.

Grafe sieht wesentliche Probleme in der Anwendung der heute oft gängigen Materialien zur Dämmung, da deren langfristiges Verhalten noch weitgehend unbekannt sei. „Wissen wir wirklich, ob diese Materialien, mit denen die Häuser so versiegelt werden, nicht zu neuen Gesundheitsproblemen führen? Wie es sich in einem Haus aus Stein, Lehm oder Holz lebt, wissen Menschen seit Jahrhunderten. Können wir dies auch für die Materialien sagen, die jetzt zum Einsatz kommen? Die meisten Schadstoffe, die wir einatmen, befinden sich eigentlich in den Innenräumen. Schaffen wir uns mit der massenhaften Dämmung der Häuser nicht die Bauruinen der Zukunft?“

Ein weiterer, noch nicht einmal untersuchter Aspekt dieser Baumaßnahmen sei die Auswirkung auf andere Lebewesen, wie zum Beispiel Insekten, Mäuse oder auch Schwalben, die seit jeher mit den Menschen in und an deren Unterkünften gelebt hätten. Hinzu komme die Tatsache, dass die Häuser heute eher gekühlt, statt beheizt werden müssten, da sich im Zuge des Klimawandels die Temperatur verändert habe.

Klimaanlagen werden in deutschen Gebäuden zuhauf verbaut, dabei macht uns die arabische Welt mit traditionellen Bauweisen vor, dass Häuser extremer Hitze auch ohne Klimaanlagen trotzen können. Dazu fällt Grafe sofort eine Zusammenarbeit mit Studierenden ein, die anlässlich des Solar Decathlon 2022 genau an diesem Thema gearbeitet hatten.

„Wir hatten im vorletzten Jahr zum Thema Klimawandel mit Studierenden an den nicht technologischen, sondern räumlichen, also architektonischen Lösungen gearbeitet und zwar für alle möglichen Klimazonen. Da ist uns allen aufgefallen, dass es ein sehr umfangreiches traditionelles Wissen dazu gibt, wie man das Raumklima positiv beeinflussen kann. Dazu gehört in den subtropischen und mediterranen Klimazonen das Erzeugen von Luftzügen über Windtürme, vor allem im vorderen Orient, und man kann da viel mehr über die Räume erzeugen als über eine Technik.“

Es werde also die zukünftige Aufgabe von Architektinnen sein, dieses Wissen wieder zu aktivieren und es auch bei uns, in einem gemäßigten Klima, anzuwenden. Gerade bei den vielen kleinen Appartements, die zurzeit gebaut würden, sollte man über eine vernünftige Ventilation schon in der Planung nachdenken, rät Grafe. „Vielleicht brauchen wir in der Zukunft keine Schornsteine mehr, sondern Windtürme.“

Der Stein als Vorbild

In München gibt es das schöne Beispiel eines besonders nachhaltigen Bürogebäudes, das ohne Heizung und Klimaanlage auskommt. Allein durch die Nutzung des sogenannten „Unipor Coriso-Ziegels“ kann eine ganzjährige Raumtemperatur von 22 bis 26 Grad Celsius erreicht werden. „Das wichtigste an dem Ziegel ist die Tatsache, dass es sich, im Gegensatz zu anderen Dämmmaterialien, um einen Stein handelt, der bei der Dämmung mithilft. Damit haben wir ein Material, von dem wir heute schon sagen können, wie es sich in den nächsten 30 Jahren verhält, weil wir es mit historischen Steinkonstruktionen vergleichen können.“

So werden heute im industriellen Bauen in Form von dicken Wänden und Wärmeakkumulation Prinzipien von früher wieder eingeführt. „Der Stein gibt im Sommer Wärme ab und speichert sie im Winter“ erklärt Grafe und fährt fort, „zugleich ist das ein schönes Beispiel für die Forschung an Baustoffen, die nun auch Alternativen anbieten kann und sich damit auch auf Jahrtausende alte Traditionen rückbesinnt, die ohne Plastik auskommen.“

Innovative Technologien für den Umbau statt Neubau auf der grünen Wiese

Alle Welt denkt immer, dass nachhaltig gebaute Häuser sehr viel teurer sind. Ein Architekturbüro in Melbourne (Australien) beweist aber mit einem bezahlbar ökologisch gebauten Haus das Gegenteil. Die Bauherren versprechen, dass beim gesamten Hausbau lediglich drei Müllsäcke auf der Deponie landen und arbeiten mit Hartholzplatten, poliertem Feinbeton und einem Schmetterlingsdach, welches die Sonneneinstrahlung durch die Sonnenkollektoren optimal nutzt. Mit zusätzlichem Regenwasserspeicher, Doppelverglasung und LED-Beleuchtung bezahlen Bewohner bei normalem Energieverbrauch im Jahr circa zwei Euro für Strom und Heizenergie.

„Ja“, sagt Grafe, „aber Australien ist nicht Europa, das heißt, wir müssen eine andere Berechnung haben, weil wir hier eigentlich keine freien Flächen für Neubauten haben. Wenn uns die vielen Hochwasserkatastrophen der letzten Jahre eines lehren, dann dies: wir müssen in Europa die fortschreitende Versiegelung aufhalten. Kurzum: auch wenn Bundeskanzler Scholz anderer Meinung zu sein scheint: wir brauchen einen Baustopp auf der grünen Wiese. Es stellt sich daher die Frage: Wie gehen wir mit dem um, was schon da ist?“

Grafe unterstützt deshalb ausdrücklich das Abrissmoratorium, das Architects for Future, eine Gruppe junger Architektinnen zusammen mit verschiedenen Architektenkammern und dem Bund Deutscher Architektinnen und Architekten BDA formuliert hat. Also: nicht mehr abreißen, um neu zu bauen, sondern weiterbauen mit dem Bestand.

„In Europa wird die ganz interessante Frage sein, wie man innovative, neuentwickelte Technologien für den Umbau nutzt. Wir haben enorme Entwicklungen in den holzbasierten Konstruktionsformen, die beim Umbau erfolgreich eingesetzt werden können. Auch die Erzeugung von erneuerbarer Energie wird dabei eine Rolle spielen und neue Formen erzeugen, wie man am expressiven Dach des Hauses in Australien sehen kann. Wir müssen aber auch der Gesellschaft, den Auftraggebenden und Bewohnern klarmachen, dass dies alles ein intelligentes Entwerfen erfordert, was auch wertgeschätzt und bezahlt werden muss. Intelligenz im Entwurf bedeutet immer höhere Qualität.“

Die Materialfrage im 21. Jahrhundert

Im Zuge der Nachhaltigkeit bekommen auch die Materialien eine immer wichtigere Bedeutung. Nachwachsende Rohstoffe wie die Hanfpflanze, die zudem noch einen hohen Schallschutz verspricht könnten unter anderem zum Baustoff der Zukunft gehören. „Nachwachsende Materialien genießen ganz klar den Vorzug sowie alle Materialien, die sich wieder leicht voneinander lösen lassen, wie der altbewährte Stein“, erklärt Grafe. „Bis ins 18. Jahrhundert wurden im Prinzip Steine von Häusern immer wieder auseinandergenommen und neu verwendet und erst in der Industriellen Revolution durch die Einführung von Glas, Stahl und Beton verdrängt.“ Durch die Nachhaltigkeitsdebatte und intelligente Recyclingmethoden sei das Material des 21. Jahrhunderts nun wieder der bereits vorhandene Werkstoff. „Wir aktivieren wieder lange existierendes Wissen.“

Bauen im Bestand

Grafe kommt zum Schluss noch einmal auf die Herausforderung des Umbaus von Nachkriegsbauten zurück. Durch Bauen im Bestand wird die Umnutzung bestehender Gebäude, die ursprünglich wenig nachhaltig gebaut wurden, auch in NRW vorangetrieben. „Das ist eine ganz große Herausforderung und beschäftigt uns hier, weil der Prozentsatz dieses Baubestandes in NRW extrem hoch ist“, sagt Grafe. Gerade in der Fassade genügten diese Häuser nicht dem Standard und müssten dringend ertüchtigt werden. Daher untersuche er mit Studierenden sehr intensiv, wie man diese Architektur am besten behandeln könne.

Dabei müsse man immer individuell von Fall zu Fall entschieden, was zu tun sei. „Die bauliche Anpassung von Häusern ist eine Notwendigkeit, die außer Frage steht. Sie darf aber nicht auf ihre technischen Aspekte reduziert werden. Dabei muss man auch über neue Formen des Zusammenlebens nachdenken, damit die moderne Nutzung dieser Gebäude nicht nur eine Notlösung ist.“

In Wuppertal kennt Grafe ein sehr lobenswertes Beispiel eines nachhaltigen Bauprojektes. Der sogenannte BOB Campus, mitten in Oberbarmen, direkt an der Nordbahntrasse. Zu diesem neuen Ort auf dem Gelände einer ehemaligen Textilfabrik, mit einer Kita, Schulräumen, Gewerbe- und Gemeinschaftsflächen, Wohnungen und einem Nachbarschaftspark sagt Grafe abschließend: „Ich sehe das als ein Leuchtturmprojekt, in dem man diese Kombination von Weiterbauen und auch Neubau umsetzen kann. Da hat man den Blick aufs Ganze. Es ist ein Zeichen für die Erneuerung in Wuppertal und es ist sehr genau auf die einzelnen Teile des Gebäudes zugeschnitten. Damit ist es auch eine Ökonomie der Mittel, denn man setzt zielgenau ein, was man wirklich braucht. Es ist es maßgeschneidert und das ist auch ein Beispiel für das Finden der Intelligenz in der schon vorhandenen Architektur.“

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