Armut in Wuppertal Jedes dritte Kind ist betroffen

Wuppertal · Am Donnerstag (17. November 2016) findet ab 19 Uhr in der Nesselstraße eine Diskussionsrunde mit Experten von Diakonie und Politik zum Thema Kinderarmut statt. Im Interview spricht Bärbel Hoffmann, Leiterin der Evangelischen Kinder-, Jugend- und Familienhilfe Wuppertal gGmbH, über das Thema.

Wie viele Kinder sind in Wuppertal von Kinderarmut betroffen?

Hoffmann: Bei uns in der Stadt sind es weitaus mehr Kinder als im Bundesdurchschnitt. Statt jedes fünfte Kind ist im Tal jedes dritte Kind von Armut betroffen.

Wie ist dabei der Begriff Armut definiert?

Hoffmann: Familien, die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (Hatz IV) bekommen, gelten als arm. Oder Haushalte, die weniger als die Hälfte des Durchschnittnettoeinkommens beziehen. Wobei für mich der Armutsbegriff relativ zu sehen ist. Entscheidend ist immer der Vergleich zum bestehenden Wohlstandsniveau. Besonders betroffen sind Kinder alleinerziehender Eltern, Familien mit vielen Kindern und Geringverdienende. Sie alle müssen sehr gut rechnen, damit sie einigermaßen über die Runde kommen. Fest steht: In unserer Gesellschaft ist es für betroffene Kinder noch viel schwieriger geworden, mithalten zu können, als früher.

Heißt das, dass die Schere weiter auseinander geht?

Hoffmann: Ja. Es liegen Welten zwischen den Möglichkeiten, die einige Kinder haben und andere eben nicht. Das fängt schon mit einer fehlenden gesunden Ernährung an. In der heutigen Zeit funktioniert Kommunikation bei Kindern und Jugendlichen wie Verabredungen oder Rückfragen zu Schularbeiten ganz selbstverständlich über neue Medien, wie zum Beispiel über das Smartphone. Wenn die Kinder da nicht mitmachen, sind sie gleich ausgegrenzt und haben keine Chance, in der Gruppe Fuß zu fassen. Oder sie besuchen keinen Sportverein, weil das Fußballoutfit zu teuer ist oder weil die Familien nicht mobil sind, um zum Training und zu Spielen zu kommen. Daran ändert auch das Bildungs- und Teilhabegesetz nichts. Aber es geht natürlich nicht nur um die materiellen Dinge: Die Kinder haben oftmals keinen Zugang zu Bildung. Und das ist natürlich noch schwerwiegender. Der Schulerfolg eines Kindes in Deutschland hängt immer noch sehr davon ab, welche Förderung sich das Elternhaus leisten kann. Das ärgert mich sehr. Die hohen Kosten für dauerhafte Nachhilfe zum Beispiel kann sich nicht jeder leisten.

Sind Kinder, die in Armut aufwachsen, stigmatisiert?

Hoffmann: Ja, und das ist aus meiner Sicht die große Gefahr. Es ist ein Unterschied, ob man freiwillig gebrauchte Kleidung trägt, oder ob man es sich nicht leisten kann, neue Klamotten zu kaufen. Man braucht ein großes Selbstbewusstsein, um in die Kleiderkammer zu gehen.

Was unternimmt die Diakonie Wuppertal, um zu helfen?

Hoffmann: Das Angebot ist sehr vielfältig und reicht vom Bereich "frühe Hilfen" für junge Familien, über die Schuldnerberatung oder Arbeitsprojekte, die die Berufstätigkeit fördern. In den evangelischen Kindertagesstätten vermitteln wir sehr früh den Zugang zur Bildung und arbeiten dort sehr eng mit den Eltern zusammen. Ein weiterer Punkt ist die Schulsozialarbeit und die Familienhilfe. Wenn Familien gar nicht mehr weiter wissen, können die Kinder Tagesgruppen besuchen oder — wenn es gar nicht anders geht — auch stationär aufgenommen werden. Natürlich versuchen wir, die Familien mit flexiblen Erziehungshilfen zu unterstützen.

Steigt der Hilfebedarf bei der Betreuung der Kinder in Familien, die arm sind?

Hoffmann: Rund 80 Prozent der Familien, die wir in der Familienhilfe betreuen, sind vor Armut betroffen. Teilweise setzt sich das über Generationen fort. Wenn ich permanent existenzielle Sorgen habe und nicht weiß, wie ich die nächste Stromrechnung bezahlen soll, habe ich oft weniger Geduld, den Alltag mit Kindern zu bewältigen. Häufig ist keine Familie oder kein soziales Netzwerk vor Ort. Oft gibt es Suchtproblematiken. Das ist ein absoluter Teufelskreis.

Was brauchen betroffene Kinder aus Ihrer Sicht besonders?

Hoffmann: Sie brauchen gesellschaftliche Solidarität. Wir müssen uns für sie verantwortlich fühlen und dabei helfen, dass sie Zugang zur Bildung und zum gesellschaftlichen Leben haben. Meine größte Sorge ist, dass sie sich zurückziehen und sich in einer Scheinwelt verkriechen. Vor diesem Hintergrund sehe ich die Überlegungen zur Reform des Jugendhilfegesetztes mit großer Sorge: Dort ist geplant, Hilfsangebote für über 18-Jährige nur in Ausnahmen zuzulassen. Außerdem soll der Standard für Hilfen für Flüchtlingskinder abgesenkt werden. Das darf nicht passieren. Sonst produzieren wir neuen Hilfebedarf.

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