„Atlas“ im Theater am Engelsgarten Ganz, ganz starkes Stück Sprechtheater

Wuppertal · Zeitgeschichte, Flüchtlingsgeschichte, menschliches Leid: Im Theater am Engelsgarten hatte das wie ein antiker Sprech-Chor konzipierte 90-Minuten-Stück „Atlas“ des mehrfach preisgekrönten Österreichers Thomas Köck unter der Regie von Jenke Nordalm Premiere.

 Wuppertals „Atlas“-Quartett agiert auf höchstem Niveau: Philippine Pachl, Thomas Braus, Julia Meier und Julia Wolff (von links).

Wuppertals „Atlas“-Quartett agiert auf höchstem Niveau: Philippine Pachl, Thomas Braus, Julia Meier und Julia Wolff (von links).

Foto: Uwe Schinkel

Zwei beinahe vergessene „Randnotizen“ der 70er und 80er Jahre rücken ins Zentrum – und ein großartiges vierköpfiges Wuppertaler Ensemble sorgt für einen echten Gänsehaut-Abend. Es ist wenig, was da „passiert“ auf der nur von einem drehbaren Dreiecks-Element, vier Leuchtflächen, einer Nähmaschine und großen Bild-Projektionen bestimmten Bühne (Vesna Hiltmann). Trotzdem geschieht viel: Emotionen, Ereignisse, Rückblenden auf drei Zeitebenen und mit drei familiären Generationen – präsentiert fast allein durch gesprochene Worte, Mimik und Gestik sowie dramatische Dialoge.

„Atlas“ erzählt zwei Geschichten: Die einer vietnamesischen Boat-People-Mutter, die beim Kentern ihres Flüchtlingsbootes Ende der 70er Jahre ihre Tochter aus den Augen verliert und in die Bundesrepublik Deutschland kommt. Außerdem die Story der Tochter, die nicht ertrank, sondern gerettet und nach Vietnam zurückgebracht wurde, von wo aus sie in den späten 80er Jahren als „Vertragsarbeiterin“ in den „sozialistischen Bruderstaat“ DDR ging. Sie verliebt sich dort in einen vietnamesischen Übersetzer, bringt eine Tochter zur Welt, erlebt mit dieser kleinen Familie von innen, aber doch immer ausgeschlossen den Fall der Mauer, bleibt fremd in einem Land, das sie als Fremde nie wirklich wollte – und stirbt. Ihre Tochter macht sich (heute) in der vietnamesischen Hauptstadt Saigon auf die Suche nach ihrer Großmutter. Und findet sie.

Es dauert einen Moment, bis man sich in den rasant wechselnden Ebenen und im Labyrinth des „Wer ist wer und wann?“ zurechtfindet. Auch die Szenen, in denen die Enkelin auf dem Flughafen von Saigon wegen eines Vulkan-Ascheregens tagelang festsitzt, wirken etwas verwirrend. Sparsam eingeblendete Übertitel mit Zeit- und Ortsangaben helfen weiter. Vor allem aber die außerordentliche Leistung des Schauspieler-Quartetts. Thomas Braus, Julia Wolff, Philippine Pachl und Julia Meier sind auf einem Niveau unterwegs, das dieses Stück zu einem Sprechtheater-Erlebnis macht.

Braus, der zwei Rollen spielt, setzt Maßstäbe in Sachen Sprach- und Körperbeherrschung. Philippine Pachl liefert ihre sicher beste Wuppertaler Leistung bisher ab. Wenn die beiden die sich anbahnende „Wir sind das Volk-Einheit“ beobachten, kann einem angesichts dessen, was da bald kommen wird (der rassistische Pogrom von Hoyerswerda 1991, von der heutigen Lage in Teilen Ostdeutschlands gar nicht zu reden) das Blut in den Adern gefrieren.

Den prozentual kleinsten Anteil an „Atlas“ hat Julia Meier als Enkelin: Doch hält auch sie den Spannungsbogen, bringt ihre Hin- und Hergerissenheit kraftvoll auf die Bühne. Aufsehen erregend aber Julia Wolff: Zehn oder 15 Minuten lang schildert sie – als kleine, zerbrechliche Person eingebettet in ein riesiges Boat-People-Katastrophen-Foto (großartige Bühnenbild-Idee) – das Kentern ihres Flüchtlingsschiffes und den Verlust der Tochter. Ein atemloses Text- und Gefühlsgebirge arbeitet Julia Wolff da ab – und (offen gesagt) man kämpft als Zuschauer mit den Tränen.

Das Beinahe-Weinen wandelt sich in Wut, wenn sie diesen Satz spricht: „Nie wieder, haben sie gesagt, nie wieder sollen Menschen auf der Flucht ertrinken, stand unter den Bildern, und dass der Westen sich jetzt einsetzt für die auf der Flucht Ertrinkenden.“ Lächerliche 40, 45 Jahre ist das Boat-People-Thema her – und die EU-Staaten schachern bei der Mittelmeer-Seenotrettung um Menschenleben.

„Atlas“ ist hochpolitisch, hochbrisant. Vergessene Facetten (die entsetzlichen Zustände auf der Flüchtlingsinsel Pulau Bidong oder der Arbeitssklaven-Umgang der DDR mit den Vietnamesen) vom Rand der Zeit holt es in den Vordergrund, setzt diese Facetten in den Heute-Kontext. Es lässt uns mit den Augen der „Kleinen“ sehen, die zwischen „großen“ Ereignissen zerrieben werden.

Und „Atlas“ ist ein hochklassiges Theater-Text-Kunstwerk. Das Wuppertaler Ensemble ist dieser Aufgabe gewachsen. Unbedingt sehen!

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