„Die Hölle / Inferno“ mit Thomas Braus 75 Minuten lang endlose Finsternis

Wuppertal · Ein Mann, 14 Zuschauer, das Opernhaus bis hinauf unters Dach – und ein tiefer Abgrund der Seelendunkelheit: Immer noch spielt Thomas Braus „Die Hölle / Inferno“. Das geht unter die Haut.

Wenn Thomas Braus in „Die Hölle / Inferno“ unterm Opernhausdach in die Abgründe der menschlichen Seele blickt, sieht er sich selbst. Den Zuschauern geht es nicht anders. Auch sie schauen tief in sich selbst hinein.

Wenn Thomas Braus in „Die Hölle / Inferno“ unterm Opernhausdach in die Abgründe der menschlichen Seele blickt, sieht er sich selbst. Den Zuschauern geht es nicht anders. Auch sie schauen tief in sich selbst hinein.

Foto: Klaus Lefebvre

Dass Braus es „spielt“ – nein, das ist Unsinn. Er lebt es, schwitzt es, schreit es, keucht es. Was ist dieses „es“? Eine 75-Minuten-Version frei nach Dantes „Inferno“, von Thomas Braus textlich eingedampft, inszeniert vom österreichischen Regisseur Johann Kresnik, der 2019 starb. „Reise ins Innere“ heißt das Ganze im Untertitel – und ist kein touristischer Trip, sondern ein Höllenritt ganz weit hinunter in die Dunkelheit der menschlichen Seele.

Das Dante-Textgebirge, das im 14. Jahrhundert – eine Ewigkeit vor der „Erfindung“ von Psychoanalyse und Psychotherapie – den gnadenlosen Scheinwerfer gerichtet hat auf die großen Ängste der Menschen, ist auch heute noch grausig und gültig. Es geht, worum es immer ging und immer gehen wird: Tod, Schuld, Versagen, Verlust, Selbstzweifel, Lügen und Betrügen, Belogen- und Betrogenwerden und um so vieles mehr. Es geht um Ängste, es geht um die Angst.

Thomas Braus, voller Schweiß, Blut und schwarzem Pech, ist höchstens ein paar Meter von den nur wenigen für dieses Format möglichen Zuschauern entfernt, kommt ihnen oft sogar auf nur ein paar Zentimeter nah. Er führt sie in die Kreise (seiner) Hölle, beeindruckt mit boulder-athletischer Körperlichkeit, mit sprachlicher Vielgesichtigkeit, Geschwindigkeit, taucht immer wieder von irgendwo anders auf, lässt niemandem eine Atempause, schont keinen – sich nicht, das Publikum nicht.

Es dauert nicht lang, da wird einem, wenn man das miterlebt, klar: Hier geht es keineswegs (nur) um Dante oder Vergil oder irgendwelche Gestalten, die längst in der Gruft liegen. Das ist nichts, das man im Lehnsessel mit einem Glas Wein in der Hand „über sich ergehen lassen“ kann.

Nein, hier geht es um jede und jeden. Hier geht es um uns. Was Hieronymus Bosch als Maler an Höllenbildern ins Gedächtnis der Menschheit eingespeist hat, dafür hat Dante den Text geliefert: Thomas Braus‘ „Die Hölle / Inferno“ führt beide Ebenen zusammen. Es ist selten, dass das Label „hautnahes Erlebnis“ so unbedingt zutrifft.

Ich sage es mit einer Formulierung frei nach Umberto Eco: Die dürftigen Worte der menschlichen Sprache reichen nicht aus, um dieses Ein-Mann-Stück und was es mit einem macht, zu beschreiben. Das muss man miterleben. Danach geht man nicht einfach zu „Tagesthemen“ und Heia-Bettchen über.

Ganz zum Schluss, wenn Thomas Braus oben unterm Opernhausdach die Hand zum Himmel reckt, ausruft „Ich sehe die Sterne“ und das Licht komplett erlischt, will man nicht glauben, dass es jetzt vorbei ist. Man bekommt minutenlang die Hände nicht hoch, hört nur das Atmen in der Finsternis.

Und endlich applaudiert der Erste.

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