Schauspielerin Julia Wolff "Glück, das ist heute vor allem mein Sohn"

Wuppertal · Die Schauspielerei war für Julia Wolff Beruf und Berufung. Nirgends fühlte sich die heute 49-Jährige so frei wie auf der Bühne. Nirgends fühlte sie sich dem Gefühl von Glück näher. Seit einem schweren Unfall im Sommer 2016 haben sich ihre Maßstäbe verändert.

 Julia Wolff.

Julia Wolff.

Foto: Bettina Osswald

"Ich bin bei der Frage nach dem Glück bescheidener geworden", sagt sie.

Glück, das bedeutete für Julia Wolff immer, auf der Bühne zu stehen. Wenn sie in andere Rollen schlüpfte, dann war sie ganz bei sich. Alle Sorgen waren vergessen. Es gab nur die Welt, in der sie gerade spielte. Ihr eigenes Leben hatte sie zusammen mit den Alltagsklamotten in der Garderobe abgestreift. Dann konnte sie sein, wer sie wollte. Ein Gefühl unendlicher Freiheit — pures Glück.

Wenn die Schauspielerin heute auf der Bühne steht, dann folgt ihr die Realität auf Schritt und Tritt. Lässt sich nicht abschütteln, nicht verleugnen. Nicht einmal für einen kurzen Moment. Denn seit ihrem schweren Unfall vor anderthalb Jahren ist Julia Wolff zu 80 Prozent schwerbehindert. Ihr Körper, er erinnert sie in jeder Sekunde daran. Mehr noch als im Alltag spürt die 49-Jährige hier ihr Handicap. Freiheit — wie fühlte sich das nochmal an?

 Zurück auf der Bühne: Julia Wolff mit Kollege Alexander Peiler in der aktuellen „Räuber Hotzenplotz“-Inszenierung.

Zurück auf der Bühne: Julia Wolff mit Kollege Alexander Peiler in der aktuellen „Räuber Hotzenplotz“-Inszenierung.

Foto: Uwe Schinkel

Dabei ist es ein Wunder, dass sie heute, im Dezember 2017, überhaupt Theater spielen kann. Niemand hätte das für möglich gehalten, als Julia Wolff im Sommer 2016 in ein Krankenhaus in Spanien eingeliefert wird. Genickbruch. Der zweite Halswirbel gebrochen. Koma. Künstliche Beatmung. Prognose: Sie werde nie mehr gehen, sich bewegen oder überhaupt alleine atmen können. Doch von alldem weiß die Schauspielerin damals nichts. "Ich wollte die Prognose damals nicht hören", sagt sie. "Doch mental war ich nie am Boden. Ich habe immer gedacht: Ich glaube daran, eines Tages wieder laufen zu können."

Dabei zerrte das wochenlange Liegen an den Nerven. Wieder und wieder ist sie damals gedanklich zurückgekehrt an den Strand. In den Moment, der ihr Leben so tragisch verändern sollte. Einen Kitesurf-Schnupperkurs hatte sie im Fuerteventura-Urlaub gebucht. Doch an diesem Nachmittag hatte sie eigentlich gar keine rechte Lust. Aber gebucht war gebucht, dachte sie und verdrängte ihre Unlust. Als sie mit dem Lehrer Trockenübungen am Boden macht, spürt sie, dass der Wind so stark ist, dass sie das Segel kaum halten kann.

Sie ist unsicher: Sollte sie wirklich weitermachen? Doch der Kite-Lehrer teilt die Bedenken nicht. Nur ihr Sohn, gerade mal sechs Jahre alt, hat kein gutes Gefühl. "Er hat damals zu mir gesagt, ich solle das nicht machen", erzählt Julia Wolff. Sie hört nicht auf ihn. Stattdessen tut die sportliche Frau, was der Lehrer ihr gezeigt hat. Bis sie von einer kräftigen Windböe ergriffen und durch die Luft gewirbelt wird. Mehrere Male schlägt sie dabei auf den Boden. Und bleibt schließlich liegen. Schmerzen spürt sie keine. Doch bewegen kann sie sich nicht. Dann wird sie bewusstlos.

Wenn Julia Wolff heute davon erzählt, sind da weder Zorn noch Vorwürfe zu spüren. "Nein", sagt sie nachdenklich, "einen Groll gegen den Surflehrer hege ich nicht. Eher gegen mich selbst. Warum habe ich nicht auf meine innere Stimme gehört? Und auf meinen Sohn? Auch wenn der Lehrer hartnäckig war — ich bin erwachsen, ich hätte jederzeit abbrechen können. Aber ich habe es nicht getan." Gemeldet hat sich dieser Lehrer übrigens nie bei ihr. Kein Besuch, kein Brief, keine Nachfrage, wie es ihr geht. "Vielleicht hat er Angst, wie ich reagiere", überlegt Julia Wolff. Sie weiß, dass sie das stark macht, dass sie selbst Verantwortung für das Unglück übernimmt. Dass sie nicht verbittert ist. Nicht voller Hass und Wut. Dass sie vergeben kann — auch sich selbst.

Zu dieser Stärke findet sie schon in Bochum zurück, wo sie viele Wochen in einer Spezialklinik liegt. Es ist Ende September 2016, als ein Feuer in der Uniklinik ausbricht. Julia Wolff liegt in ihrem Bett und registriert, wie nach und nach die Patienten aus den oberen Etagen evakuiert werden. "Sie kommen sicher gleich", denkt sie. Doch nichts passiert. Sie bekommt Panik. "In dem Moment wurde mir klar, dass ich alleine vollkommen ausgeliefert wäre. Wenn mir keiner hilft, dann war es das."

Mit einem Mal begreift sie, wie es um sie steht und weint. "Das erste Mal nach dem Unfall", erinnert sie sich. Doch dieses Erlebnis motiviert sie. Sie will sich wieder bewegen, wieder laufen können. Und sie wird. Eisern trainiert sie mit den Physiotherapeuten und lernt ganz langsam wieder laufen. Schritt für Schritt kämpft sie sich zurück in ihr Leben. Jede Bewegung, die sie neu lernt, birgt ein Stückchen Selbstständigkeit. Jeder Meter, den sie geht, schenkt ihr Freiheit.

Wer Julia Wolff heute in Wuppertal trifft, der sieht zuerst eine starke und selbstständige Frau. Doch der Eindruck täuscht. "Das Laufen fällt mir nach wie vor schwer", sagt die allein erziehende Mutter, die durch eine spastische Lähmung der rechten Hand motorisch noch immer stark eingeschränkt ist. Ein Brot schmieren ist kaum möglich, Fingernägel schneiden oder Haare waschen — nur mit Hilfe zu bewältigen. Daher sind die Haare nicht mehr braun und lang, sondern grau und kurz. Ihre Attraktivität mindert das nicht. Doch was sie auch tut — Kompromisse und Einschränkungen gehören jetzt dazu. Immer.

Seit kurzem steht sie auch wieder auf der Bühne. Im Schauspielhaus Bochum ist sie in "Drei Männer im Schnee" zu sehen und an den Wuppertaler Bühnen im "Räuber Hotzenplotz". Ein langer Weg war es bis hierher. Doch die Schauspielerei, einst Beruf und Berufung für Julia Wolff, sie fühlt sich eben nicht mehr so an wie früher. Die Möglichkeiten der Rollen, die sie spielen kann, sind begrenzt, ihr früher so körperliches Spiel auch. Sie sucht nach Alternativen und findet sie in Sprecherrollen in Hörspielen und Radiofeatures. Hier gibt es keine Einschränkungen, hier spielt ihr Handicap keine Rolle. Hier ist sie nun frei. "Das würde ich gerne weiter ausbauen", verrät sie lächelnd — und hofft auf weitere Türen, die sich hier für sie öffnen.

Ob sie heute ein glücklicher Mensch ist? Julia Wolff schaut einen Moment in das winterliche Grau vor dem Fenster. "Ich denke, ich bin grundsätzlich ein positiver Mensch. Das Glas ist bei mir meist halbvoll — ja, ich bin generell schon glücksfähig", sagt sie noch etwas ausweichend. "Aber ich denke, ich bin bei der Frage bescheidener geworden. Ich suche das Glück nicht mehr in der absoluten Freiheit. Es kommt eben immer darauf an, was man aus einer Situation macht. Glück, das ist heute vor allem mein Sohn."

.Bühnenfoto: Uwe Schinkel/Portrait: Bettina Osswald

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