Bergische Uni Die Stimme erheben, wo die Freiheit bedroht wird

Wuppertal · Am 13. Oktober 1922 hielt Thomas Mann in Berlin aus Anlass des 60. Geburtstages von Gerhart Hauptmann eine Rede mit dem Titel „Von deutscher Republik“. Warum ist diese Rede auch nach 100 Jahren noch so bemerkenswert?

 Dr. Arne Karsten (Bergische Uni).

Dr. Arne Karsten (Bergische Uni).

Foto: UniService Transfer

Karsten: „Aus zweierlei Motiven. Zum einen, weil sie bei den Zeitgenossen auf eine ungeheure Reaktion gestoßen ist. Die Rede wurde als Fanal wahrgenommen und in der deutschen Presse von allen politischen Richtungen intensiv kommentiert, teils anerkennend, teils kritisierend, teils höhnisch. Zum anderen ist sie nach wie vor aufschlussreich als Zeitdokument für die Entwicklung Deutschlands in den 20er Jahren und eben ganz besonders die Entwicklung des Bildungsbürgertums der intellektuellen Elite in dieser Epoche, die geprägt ist von fundamentalen Umbrüchen im politischen und gesellschaftlichen Bereich.

Die Lage nach 1918 war prekär, die Abdankung des Kaisers, das Ende der Monarchie, der Beginn der Republik, war begleitet von wirtschaftlich grundlegenden Veränderungen. Wir befinden uns 1922 am Beginn der Hyperinflation. Das deutsche Bürgertum sieht sich nicht nur politisch-gesellschaftlich verunsichert, sondern ist eben auch in seiner wirtschaftlichen Existenz bedroht. Und in dieser Rede kommt vieles an zeittypischer Umbruchstimmung zum Ausdruck.“

Die Rede ist ein Ja zur Demokratie, ein Ja zur Weimarer Republik. Aus welcher Überzeugung spricht Thomas Mann?

Karsten: „Er spricht aus der Überzeugung, dass man auf die gewandelten gesellschaftlichen und politischen Umstände reagieren muss, dass man sich den Forderungen der Gegenwart zu stellen hat und dass dieses Reagieren auf die Forderung des Tages nicht einem stupiden Wiederholen von Mantras der Vergangenheit geprägt sein darf. Das Festhalten am Vergangenen um seiner selbst willen, das ist etwas, was Thomas Mann in dieser Rede kritisiert.

Er führt in seiner Rede zwei Hauptzeugen an, und das ist aufschlussreich. Zum einen ist es der deutsche Aristokrat, Romantiker und Mystiker Novalis, alias Georg Philipp Friedrich von Hardenberg, der von 1772 bis 1801 gelebt hat, und der andere Gewährsmann ist Walt Whitman (1819 – 1892), der amerikanische Lyriker, Dichter und Vertreter der amerikanisch-demokratischen Ideale. Ein Vertreter der deutschen Tradition, ein Vertreter des amerikanischen Fortschritts. Die Synthese aus beiden ist Thomas Manns Prosa.“

Er spricht in dieser Rede auch von „deutscher Menschlichkeit“. Was ist das für ihn?

Karsten: „Die ,deutsche Menschlichkeit‘ ist ein großes Thema. Es ist ein Gedanke, der ihm Zeit seines Lebens sehr am Herzen gelegen hat. Deutschland ist für ihn gerade in seiner Lage zwischen den Kulturen, zwischen der romanisch-französisch-italienischen Tradition einerseits und der slawisch-russischen andererseits als Land, in dem viele Strömungen von außen zusammenkommen, geradezu prädestiniert dafür, diese Eindrücke und Einflüsse zu amalgamieren und in ihrer Andersartigkeit, immer wieder ernst zu nehmen.

Dadurch komme es zu einer Humanität – den Begriff verwendet er immer wieder –, die nicht borniert, antisemitisch, antislawisch oder antifranzösisch ist. In ihrer spezifischen Bildungstradition mache es gerade die Stärke des Deutschen aus, mit dem Fremden ernsthaft bemüht umzugehen, es zum Teil der eigenen Kultur werden zu lassen und damit eine höhere Form der Menschlichkeit, im Sinne auch von Toleranz und Anerkennung des Fremden, zu entwickeln.“

Thomas Manns Haltung zur Demokratie in dieser Rede steht allerdings im krassen Gegensatz zu seiner Haltung in seinem 1918 erschienen Buch „Betrachtungen eines Unpolitischen“. Woher rührt die Kehrtwende?

Karsten: „Die Kehrtwende ist, und das ist das Entscheidende, eine rein Oberflächliche. Thomas Mann hat das von Anfang an unterstrichen. Die Rede hatte ein riesiges Echo, die erschien auch in einer Zeitschrift und wurde bald als eigene Monographie in einer Broschüre publiziert. Thomas Mann schrieb 1923 dazu ein Vorwort. In diesem Vorwort äußert er sich auch zu der Reaktion auf diese Rede und die weit verbreitete Ansicht, hier sei jemand ,umgekippt‘.

In der rechten Presse macht das Schlagwort ,Mann über Bord‘ die Runde. Er selber sah keinen Bruch, er sagt explizit: ,Meine Gedanken mögen sich geändert haben, mein Sinn keineswegs‘. Er meint, dass es um des Verfolgens höherer Ziele oft im Leben notwendig ist, über bestimmte Einzelphänome die Ansichten zu ändern. Anders gesagt, dass ihm 1914/18 richtig erschien, deutschen Geist und deutsche Geistestradition zu verteidigen gegen eine überdrehte, geradezu hysterische Propaganda der Demokratiefanatiker, nimmt sich anders aus, wenn man 1922 feststellt, dass jetzt die Fanatiker auf der anderen Seite stehen, nämlich als Demokratieverächter.

1922 ist er der Ansicht, dass man den Zeiger der Weltgeschichte nicht einfach zurückdrehen und zurückkehren kann zur diskreditieren Monarchie. Das Gebot der Stunde ist für ihn, den Entwicklungsstand, wie er sich jetzt darstellt, zu akzeptieren und damit verantwortungsvoll Politik zu gestalten. Er war insofern der Idealtypus des ,Vernunftrepublikaners‘.“

Seine Rede ist vor allem eine Rede an die Jugend Deutschlands, die der Demokratie nicht so positiv gegenüberstand. Der politische Terror hatte erst wenige Monate zuvor mit der Ermordung Walther Rathenaus einen traurigen Höhepunkt erreicht. Wie war denn die damalige Resonanz auf diesen Vortrag?

Karsten: „Auch in der Rede gab es Gescharre, die studentische Geste des Wiederspruchs, und Thomas Mann geht auf sie auch ein und wendet sich explizit an die Jugend. Er spricht zwei Mal seine Hörer ausdrücklich als ,Kommilitonen‘ an. Die Rede insgesamt wurde sehr ambivalent angenommen. Es gab viel Anerkennung von republikanischer Seite, aber es gab eben auch die fundamentale Kritik von Seiten der damaligen Rechten, die nur noch verstockt die Beschwörung – das ist Thomas Manns Analyse – einer letztlich abgestorbenen Vergangenheit auf ihre Fahnen schreibt.“

Kritiker zweifeln an der Ehrlichkeit seiner Rede, denn Thomas Mann selber beharrte auch später immer wieder darauf, dass er 1922 nicht mit seinen früheren Überzeugungen gebrochen habe. War er also nur ein Wendehals?

Karsten: „Witziger Weise könnte man sagen, er war es, nur in einem ungewöhnlichen Sinne. Zeit seines Lebens hat er immer nach den Positionen geguckt, die gesellschaftlich gerade die Stärkeren sind, die den Rückenwind der Geschichte zu haben schienen. Und dann hat er sich immer bei den Bataillonen der schwächeren Seite eingereiht. Er hat die deutschen Traditionen verteidigt. Das hat ihm 1918 den Vorwurf des Reaktionärs eingebracht, als die ,Betrachtungen eines Unpolitischen‘ erschienen, in dem Moment, wo gerade die Revolution triumphierte. Das ist ihm sehr übel genommen worden.

Drei Jahre später hatte sich der Wind gedreht, jetzt gewinnt eine reaktionäre Geisteshaltung und er sagt: ,Ich glaubte, etwas Gutes tun zu können, gegen die Mehrheitsmeinung, die gerade die Oberhand gewinnt‘. Seine Erkenntnis war, dass die Mehrheit nicht unterstützt werden müsse, die macht ihren Weg allein. Es ist immer zu schauen, wo sind die Meinungen, die gerade bedrängt werden.

Thomas Mann war ein großer Nietzscheleser und ohne jeden Zweifel hat er den Satz Nietzsches bejaht: ,Die sicherste Weise, einen jungen Menschen zu verderben, ist es, ihm beizubringen, Gleichdenkende höher zu achten, als Andersdenkende‘. Thomas Mann schaute immer dahin, wo die Freiheit bedroht wurde. Darin lag nicht zuletzt sein künstlerisches Ethos.“

Kurz vor seinem Tod resümierte Thomas Mann: „Unleugbar hat ja das politische Moralisieren eines Künstlers etwas Komisches.“ Was meinte er damit?

Karsten: „Das ist sein künstlerisches Lebenscredo, sein Lebenselement: die Ironie. Die Ansicht, dass das Kennzeichen der Kunst sei, über den Parteien zu stehen. Der Geist habe zu vermitteln zwischen verschiedenen Positionen. Es kommt ja selten in der Weltgeschichte vor, dass eine Partei ganz recht hat. Meistens kann man die Dinge so sehen, oder auch wieder anders.

Diese Position des Souveräns über den Parteien, über den Meinungsstreit, der jede Seite zu ihrem Recht kommen lässt, der vermittelt und ironisiert, der höhere Heiterkeit in die Welt bringt, das war immer die Basis seines künstlerischen Selbstverständnisses. Und dieses Selbstverständnis äußert sich nicht zuletzt auch immer wieder in seinen Stellungnahmen zur Politik.“

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