Kommentar zu „Wuppertal klimaneutral 2035“ Durchlesen, nicht lospoltern!

Wuppertal · Wuppertal soll möglichst schon bis 2035 klimaneutral werden und zusammen mit einigen anderen Städten bundesweit eine Vorreiterrolle einnehmen. So steht es im 100- Tage-Programm von Oberbürgermeister Uwe Schneidewind, der dazu gemeinsam mit Experten, Schlüsselakteuren, Bürgern und Politik eine systematische Klimaschutzstrategie entwickeln will.

 Redakteur Roderich Trapp.

Redakteur Roderich Trapp.

Foto: Max Höllwarth

Die Experten haben jetzt schon einmal vorgelegt – in Form der 90 Seiten starken Sondierungsstudie „Wuppertal klimaneutral 2035“. Das Team des Wuppertal Instituts umreißt darin, was dieses Ziel eigentlich in Zahlen ausgedrückt bedeutet. Und was die Voraussetzungen sind, um es zu erreichen.

Es lohnt sich sehr, das im Detail zu lesen und sich die vielen Zahlen zum Stand heute und dem aus der Klimaschutzperspektive 2035 unbedingt Notwendigen zu Gemüte zu führen. Kurz zusammengefasst sieht die Sache so aus: Es geht darum, Wuppertals CO2-Ausstoß von heute 2,9 Millionen Tonnen auf 87.000 Tonnen zu reduzieren -(Null wäre eine Illusion). Eine immense Herausforderung, für die in ganz vielen Bereichen „Reduktionspfade“ beschritten werden müssen. Das betrifft die Ausstattung von Gebäuden genauso wie Mobilität, Industrie und andere Unternehmen, aber auch unseren ganz persönlichen Lebensstil.

Nur zwei von vielen Zielwerten innerhalb dieses Szenarios: Während heute gerade mal 12 Prozent Wärme über erneuerbare Energien, Fernwärme oder strombasiert abgedeckt werden, müssten es im Jahr 2035 rund 88 Prozent sein. Wo heute von 200.000 Kraftfahrzeugen deutlich unter ein Prozent mit Strom fährt, sollen Benzin- und Dieselfahrzeuge 2035 nur noch fünf Prozent ausmachen. In anderen Bereichen sind die Herausforderungen ähnlich immens.

Es liegt auf der Hand, dass so etwas nicht ohne entsprechende überregionale Förderszenarien und politische Weichenstellungen auf Landes-, Bundes- und EU-Ebene geht. Und zusätzlich ist Wuppertal darauf angewiesen, dass der Strom in Deutschland insgesamt regenerativ erzeugt wird, weil die Stadt ihren künftig sogar noch steigenden Bedarf (Stichwort E-Mobilität) logischerweise nicht selbst decken kann. Die Studie erklärt aber auch ausführlich, an welchen Stellschrauben die Stadt selbst drehen könnte und müsste. Das sind gar nicht so wenige. Aber: Wenn man dabei – neben vielen fraglos konsensfähigen Vorschlägen – Stichworte wie „Einführung eines solidarischen Bürgertickets“, „keine Neuinanspruchnahme von Flächen“, „Potenzial für Windkraftanlagen ausschöpfen“, „Tempo 30 im gesamten Stadtgebiet“ oder „Verringerung der Straßenparkplätze um 50 Prozent“ liest, dann wird klar, dass die Realisierung das Bohren ganz dicker Bretter voraussetzt. Vor allem politischer.

Bestes Beispiel: Eine städtische Handlungsoption im Bereich Mobilität ist laut der Studie „Die Einrichtung von autofreien und autoreduzierten Quartieren und einer autofreien Innenstadt“. Ziel: De-Attraktivierung des Autoverkehrs bei gleichzeitiger Attraktivierung von ÖPNV, Radverkehr und dem Zu- Fuß-Gehen. Wenn ich sehe, wie ganz aktuell die Reaktionen auf die geplante Sperrung eines Stücks Friedrich-Ebert-Straße am Laurentiusplatz ausfallen, bekommt man ein Gefühl dafür, wie dick die zu bohrenden Bretter wirklich sind. Schon bei dieser Mini-Maßnahme hat man ja den Eindruck, dass der Wegfall von acht Parkplätzen und 85 Metern Autostraße zum Zusammenbruch der gesamten Wuppertaler Wirtschaft führen könnte. Eine Randbemerkung von Uwe Schneidewind bei der Vorstellung der Studie war in dieser Hinsicht bezeichnend: „Manchmal verhakt man sich oft schon an den kleinen Schritten ...“

Deshalb empfehle ich den Entscheidern, sich die lesenswerte Studie gut zu Gemüte zu führen, ihre vielen einzelnen Aspekte im Zusammenhang zu sehen und nicht reflexartig auf die genannten Stichworte hin loszupoltern. Es stecken schließlich nicht nur Zumutungen in den vom Wuppertal Institut sehr prägnant aufgezeigten Szenarien, sondern auch viele Chancen im Hinblick auf mehr und andere Lebensqualität. Und abgesehen davon: Wenn wir demnächst bei uns so wie gerade in Vancouver draußen auch 49,6 Grad haben, denkt der eine oder andere vielleicht ja bald ein bisschen anders ...

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