Interview mit Sozialdezernent Stefan Kühn "Wir würden mehr Menschen aufnehmen"

Wuppertal · Die Flüchtlinge sind zurück. Längst nicht in den Städten, aber in den Medien. Denn während die fliehenden Menschen an der europäischen Außengrenze festhängen und der Innenminister Ankerzentren errichten lässt, gehen in Wuppertal Menschen auf die Straße, um mehr Solidarität zu fordern.

 Sozialdezernent Stefan Kühn.

Sozialdezernent Stefan Kühn.

Foto: Bettina Osswald

Angesichts der schwierigen Lage mit Blick auf die Seenotrettung haben sich die Oberbürgermeister aus Düsseldorf, Köln und Bonn in einem offenen Schreiben an die Bundeskanzlerin gewendet. Rundschau-Redakteurin Nina Bossy spricht mit Sozialdezernent Stefan Kühn über Verantwortung, Verteilung und über die Flüchtlinge, die schon da sind, hier in Wuppertal.

Rundschau: "Das ,politische Signal‘ der drei Städte der Rheinschiene an die Bundesregierung, die Seenotrettung wieder zu ermöglichen und eine europäische Lösung anzumahnen, ist richtig. Die Initiative beinhaltet jedoch keine konkreten Zusagen über die freiwillige Aufnahme von Geflüchteten, die über den bisherigen Verteilschlüssel hinausgehen." Das Zitat stammt von Oberbürgermeister Andreas Mucke. Was sagen Sie dazu?

Kühn: Dass er Recht hat. Das Signal der Städte Bonn, Düsseldorf und Köln an die Bundesregierung ist wichtig, deshalb schließen wir uns dieser Initiative an. Auch Wuppertal wäre bereit, Flüchtlinge aufzunehmen, allerdings über die üblichen Verteilungsmechanismen. Übrigens steht in dem Brief der Rheinstädte nichts anderes.

Rundschau: Nun fordern die Wohlfahrtsverbände die Stadt aber auf, auf das Signal konkrete Taten folgen zu lassen. Gefordert wird ein offizielles Angebot der Stadt Wuppertal an die Bundeskanzlerin zur Aufnahme von Geflüchteten.

Kühn: Viel wichtiger ist eine Initiative des Deutschen Städtetages. Denn dies wäre ein Signal aller Städte und hätte viel mehr Gewicht.

Rundschau: Allein im Juni ertranken 629 Menschen auf dem Weg über das Mittelmeer. Wie sähe für Sie die Lösung der Flüchtlingsfrage konkret aus?

Kühn: Es bedarf einer gesamteuropäischen Lösung. Europa muss Verantwortung übernehmen und mehr Menschen Schutz gewähren statt sich abzuschotten. Die Hilfe muss größer werden, allerdings nach geordneten Verteilungskriterien. Die Flüchtlinge müssen auf alle Länder in Europa verteilt werden, dann in Deutschland auf die Bundesländer und dann auf alle Städte.

Rundschau: Der Oberbürgermeister spricht von einem Verteilungsschlüssel.

Kühn: Genau, nach diesem Schlüssel kommen ca. 21 Prozent der Geflüchteten derzeit nach NRW. Von diesen Menschen kommen ca. 1,9 Prozent nach Wuppertal.

Rundschau: Die Rheinische Post spricht davon, dass in Düsseldorf derzeit mit 5.000 Menschen 80 Prozent der Kapazitäten erreicht sind. Wie sieht diese Rechnung für Wuppertal aus?

Kühn: In Wuppertal leben derzeit 10.000 Flüchtlinge. 7.500 sind SGB-II-Bezieher, sie werden also beim Jobcenter betreut, bei 2.500 greift das Asylbewerberleistungsgesetz. Aber auch für diese Menschen gibt es eventuell eine Bleibeperspektive. Übrigens, nicht alle von diesen 10.000 Menschen wurden Wuppertal zugewiesen. Manche von ihnen sind auch aus anderen Kommunen hierher gezogen, weil es hier eine syrische Community gibt. Das ist allerdings nicht mehr möglich, mittlerweile sind die Menschen wegen des Wohnortbindungsgesetzes nicht mehr frei in der Entscheidung, wo sie leben möchten.

Rundschau: Wie sieht es mit den Wuppertaler Kapazitäten aus?

Kühn: Wuppertal hat ein ganz anderes Prinzip als viele andere Städte. Wir setzen auf dezentrale Unterbringung, damit gelten wir bundesweit als Vorreiter. Von den 10.000 Flüchtlingen leben 9.600 in ihren eigenen vier Wänden, das sind 96 Prozent. Dass das möglich ist, liegt natürlich auch an unserem Wohnungsmarkt, und trotzdem setzen andere Städte mit ähnlichem Leerstand weiter auf Massenunterkünfte. In Duisburg wurde eine Traglufthalle für 700 Menschen angemietet. Das führt zu Konflikten, in der Unterkunft und im Umfeld. Durch unsere strategische Ausrichtung leben die Flüchtlinge als Nachbarn in den Quartieren. Die Kinder gehen in die Kitas und in die Schulen. Das fördert das Miteinander aller Menschen und die Integration der Flüchtlinge.

Rundschau: Wenn man es aber unbedingt bemessen möchte: Wie sehr ist Wuppertal mit der Unterbringung von Flüchtlingen derzeit gefordert?

Kühn: Es kommen im Moment kaum Flüchtlinge. Für das gesamte Jahr 2018 rechnen wir mit ca. 400 Menschen. Die kamen 2015 pro Woche, die Lage ist derzeit wirklich entspannt. Deshalb: Wuppertal könnte weiteren Menschen Schutz vor Krieg und Verfolgung gewähren, wenn Europa endlich das Sterben im Mittelmeer beenden würde und es mehr Menschen zu verteilen gelte.

Rundschau: Bei einem Umzug in Elberfeld haben am Samstag rund 600 Menschen eines breiten Bündnisses für die Bewegung "Seebrücke" demonstriert. Wie empfinden Sie diese Solidarität?

Kühn: Demonstrationen, Meinung zeigen, das ist für den politischen Diskurs und eine lebendige Demokratie sehr wichtig. Mich erleichtert es, wenn sich so viele für Menschlichkeit einsetzen. Denn es ist doch gerade eine menschenverachtende Haltung, die in diesen Tagen bisweilen medial dominiert hat. Wenn zum Beispiel ein Ministerpräsident von Asyltourismus spricht, halte ich das für eine Geschmacklosigkeit. Generell sollten wir mehr darauf achten, was wir sagen. Da hat die Bundeskanzlerin völlig Recht. Denn Worte sind Ausdruck von Bewusstsein und Worte prägen das Bewusstsein. Eine Sprache und eine Haltung der Solidarität kann vieles bewirken. Um es mit Johannes Rau zu sagen: Wir wollen versöhnen, nicht spalten.

Stefan Kühn beim Rundschau-Gespräch. Seit 18 Jahren leitet er das Dezernat für Soziales, Jugend und Integration. Bei seiner Wiederwahl 2016 sagte Kühn, er habe den schönsten Job in ganz Wuppertal.Foto: Bettina Osswald

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