Prof. Butterwegge in Wuppertal „Die Armut von Kindern wird weiter verschärft“
Wuppertal · Beim ökumenischen Kreuz-und-quer-Gespräch am 19. September 2022 ab 19:30 Uhr im Kath. Pfarrzentrum St. Mariä Empfängnis (Edith-Stein-Straße 19) geht es um das Thema „Kinderarmut in unserer Stadt“. Prof. Dr. Christoph Butterwegge spricht über „Erscheinungsformen – Ursachen – Gegenstrategien“. Ein Interview mit dem Armutsforscher.
Wie schätzen Sie die Entwicklung der Kinderarmut mit Blick auf die aktuelle Krise ein?
Prof. Dr. Christoph Butterwegge: „Nach der Covid-19-Pandemie stecken wir jetzt in der Energie(preis)krise, wodurch sich die inflationäre Entwicklung verschärft. Die Armut von Familien und damit die Armut von Kindern wächst dadurch weiter. Denn es sind die Familien, die besonders hohe laufende Kosten haben, weil sie mehr Geld für größere Wohnungen, Kindernahrung und Haushaltsenergie ausgeben müssen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Familien schon in der Corona-Krise besonders gelitten haben.
Schließlich gab es lange Zeit keine Betreuung in den Kitas und Schulen und auch die Gemeinschaftsverpflegung fehlte. Traurigerweise waren die Rettungsschirme der Regierung stark auf die Stabilisierung der Wirtschaft konzentriert und die Hilfe für Menschen am Existenzminimum erreichte diese sehr erheblich, als dies bei den Rettungsschirmen für Unternehmen der Fall war.
Wenn jetzt durch die Energiekrise im Winter die Preise steigen, werden sich soziale Konflikte noch stärker bemerkbar machen. Womöglich müssen selbst Mittelschichtfamilien 20 oder gar 30 Prozent ihres Haushaltnettoeinkommens für Energie aufwenden und sich drastisch einschränken. Der für das Familienleben unerlässliche Jahresurlaub könnte dem explodierenden Gaspreis zum Opfer fallen. Wir werden eine Verarmung von Familien erleben. Und ich befürchte, dass sich die Armut stärker in der Mitte der Gesellschaft ausbreitet.“
Was bedeutet das für Familien in „armen“ Städten wie Wuppertal?
Butterwegge: „Familien in Städten wie Gelsenkirchen, Bremerhaven oder Wuppertal trifft es dabei besonders hart: Denn im kommunalen Haushalt stehen kaum Mittel zur Verfügung, um die Kaufkraftverluste der Familien zu kompensieren. Wenn zum Beispiel städtische Bäder geschlossen werden, leiden darunter besonders die Kinder, die in ihrer Freizeitgestaltung wenig Spielraum haben, weil der Familie das Geld dafür fehlt.
Wer in einer behüteten Mittelschichtwelt aufwächst, kann sich das nur schwer vorstellen, aber es ist durchaus nicht ausgeschlossen, dass Kinder im kommenden Winter in Kälte und Dunkelheit ihre Schulaufgaben machen müssen, weil die Eltern Strom- und Gaskosten einsparen. Da läuft es mir kalt den Rücken hinunter …“
Warum leiden Kinder besonders unter Armut?
Butterwegge: „Für Kinder ist Verzicht ganz schwer nachzuvollziehen. Sie können schlecht verstehen, warum sie ihre Wünsche und Bedürfnisse einschränken sollen und haben eine naive Vorstellung davon, wie viel das Leben kostet. Kinder sind grundsätzlich nicht so resilient wie Erwachsene. Und durch die zurückliegenden Monate der Pandemie sind sie ohnehin psychisch stark angeschlagen.“
Was können Gemeinden und was kann Kirche gegen Kinderarmut tun? Tragen sie eine besondere Verantwortung?
Butterwegge: „Kirche muss lauter Partei ergreifen für die Armen. In den 1990er Jahren ist das in meiner Wahrnehmung stärker passiert. Die Hartz-IV-Gesetze wurden von den Kirchen vergleichsweise unkritisch begleitet, statt eines Aufschreis gab es ein Abnicken. Als mit dieser Sozialreform 2005 die Arbeitslosenhilfe abgeschafft, also nicht – wie von Gerhard Schröder in seiner „Agenda 2010“ behauptet – mit der Sozialhilfe zusammengelegt wurde, war das ein harter Einschnitt in den deutschen Sozialstaat. Und die Kinderarmut ist seither massiv angestiegen.
Das karitative Engagement von Kirche ist ehrenwert, aber es muss unbedingt eine politische Lösung her. Der Regelbedarf reicht nicht für eine gesunde Ernährung, für Kleidung, Freizeitgestaltung und Bildung von Kindern. Der Sozialstaat ist in der Verantwortung, die Kinderarmut zu beseitigen. Ich sehe Kirche in der Pflicht, den Finger stärker in die Wunde zu legen und Lobbyarbeit für die Schwächsten in der Gesellschaft zu betreiben.“