Bergische Uni Wuppertal „Leben opfern für den Frieden der Welt“

Wuppertal · Jahr100Wissen-Interview mit Dr. Arne Karsten von der Bergischen Uni in Wuppertal zum Tod des Friedenspapstes Benedikt XV. am 22. Januar 1922.

Dr. Arne Karsten (Bergische Uni).

Foto: UniService Transfer

Am 22. Januar 1922 starb Papst Benedikt XV., der als „Friedenspapst“ in die Geschichte einging. Warum erhielt er diesen Titel?

Karsten: „Weil der Papst schon kurz nach Kriegsausbruch, wenige Tage nach seiner Wahl, am 3. September 1914 ein Schreiben veröffentlichte, in dem er sich nachdrücklich für eine Beendigung des Blutvergießens einsetzte. Das wurde zu einem Leitmotiv seines gesamten Pontifikates. Berühmt geworden ist die Friedensinitiative des Vatikans im August 1917, ein in der Sache zwar erfolgloses Vermittlungsangebot des Papstes, dass dieser an die am Krieg beteiligten Mächte richtete. Mit dem ganzen Aufgebot an diplomatischen Möglichkeiten des Vatikans hat dieses initiierte Vermittlungsvorhaben das Bild des Papstes in der Öffentlichkeit sehr stark geprägt.“

Noch vor der Priesterweihe hatte er einen Doktorgrad in Rechtswissenschaften erworben und promovierte 1880 noch einmal im Kirchenrecht. Er galt als einer der führenden Vermittler für Papst Leo XIII. im Streit zwischen Deutschland und Spanien um die Karolinen-Inselgruppe im Pazifik. Was hatte der Vatikan damit zu tun?

Karsten: „Eine gute Frage. Er hatte damit gar nichts zu tun, und das machte ihn gerade als Vermittler interessant. Zunächst einmal geht es um das Selbstverständnis des Papstes als ,padre commune‘, als gemeinsamer Vater aller katholischen Fürsten im Europa seit der Reformationszeit: Der Papst als Partei über dem französischen König, dem spanischen König, dem Kaiser im Reich, den verschiedenen italienischen Fürsten.

Das war das Selbstbild, ein aus dieser Rolle resultierender Vermittler in Konfliktsituationen zwischen den europäischen Mächten zu sein. Es gibt Bilddarstellungen in Rom, da zeigt sich Papst Paul III. (1534 – 1549) als Vermittler des Friedens von Nizza zwischen Kaiser Karl V. und Franz I. von Frankreich. Das ist eine ganz alte Tradition. In der konkreten Ausprägung des Konfliktes zwischen Spanien und dem Deutschen Reich im 19. Jahrhundert ist es eine Konstellation, die ganz wesentlich davon geprägt ist, dass Otto von Bismarck in Deutschland das Verhältnis zum Vatikan verbessern wollte. In dem Augenblick, wo man jemandem die Vermittlung überträgt, gesteht man ihm eine übergeordnete Rolle zu, man ordnet sich seinem Urteil unter. Das ist natürlich für das diplomatische Prestige des Vatikans nützlich.

Bismarck wollte das Verhältnis zum Katholizismus nach den Kulturkampfjahren der Reichsgründung entspannen. Bei dem Konflikt um die Karolineninseln ging es ja weder um Sein oder Nichtsein des Reiches noch Spaniens noch der weiteren welthistorischen Entwicklung. Es war ein Feld, wo man mit wenig Aufwand die politische Großwetterlage zwischen dem Reich und dem Vatikan verbessern konnte.“

Giacomo della Chiesa wurde am 3. September 1914 erst im 10. Wahlgang mit 38 zu 18 Stimmen zum Papst gewählt. Er galt als ironisch und cholerisch, aber durchsetzungsstark. Dadurch war er in der Öffentlichkeit wenig populär. Wie äußerte sich das?

Karsten: „Er war klein, er war schmächtig und mit einer Gehbehinderung auf die Welt gekommen, also alles andere als eine eindrucksvolle Persönlichkeit in der äußeren Erscheinung. Und wie es nicht selten vorkommen soll, Leute, die mit physischen Gebrechen groß werden, kompensieren es in anderen Bereichen.

Er war außerordentlich intellektuell, mitunter auch bissig, ironisch und scharfzüngig, von rascher Auffassungsgabe und großer Arbeitsfreude. Einer seiner Mitarbeiter aus der Zeit lange vor der Papstwahl meinte, Giacomo della Chiesa hat vier Lieblingsworte: ,Schnell, schnell, schnell und schnell!‘ Das führte zu einer geistigen Präsenz, die aber auch einschüchternd wirkte und ihm ein ganz anderes Image eintrug, als das, so mancher Vorgänger.

Pius IX. zum Beispiel (Regierungszeit 1846 – 1878) war ein außerordentlich populärer Papst, sehr beliebt bei der Bevölkerung, leutselig, zugänglich und auch angenehm vom äußeren Erscheinungsbild. Giacomo della Chiesa war dagegen etwas gnomenhaft, zwar von scharfer Intelligenz, aber im Volk wenig populär.“

Während des 1. Weltkrieges stand er persönlich eher auf der Seite Frankreichs. Er unternahm mehrere erfolglose Verhandlungen zu Friedensverhandlungen. Das Bündnis aus dem Vereinigten Königreich, Frankreich und Russland, auch Triple Entente genannt, stand ihm eher kritisch gegenüber. Und auch Kaiser Wilhelm vermerkt in einem Brief, den ihm der Papst anlässlich seines Geburtstages schickt und zum Frieden mahnt: „Sancta simplicitas! Sehr dürftig und schwach für den ‚Statthalter Christi‘ auf Erden.“  Saß der Heilige Stuhl sozusagen zwischen den Stühlen?

Karsten: „Das tat er in mehrfacher Hinsicht. Das Oberhaupt der katholischen Christenheit hatte es zunächst einmal mit dem protestantischen England, dem laizistischen Frankreich und dem griechisch-orthodoxen Russland auf der einen Seite zu tun. Auf der anderen Seite stand das Deutsche Reich mit dem protestantischen Hohenzoller an der Spitze. Die einzige katholische Monarchie in Europa war noch die Habsburger Monarchie und der dritte im Bunde der Mittelmächte, das osmanische Reich, war wiederum mit dem Papst in Glaubensdingen so wenig kompatibel wie irgend möglich.

Schon in dieser Rolle als Oberhaupt der katholischen Christenheit war die Stellung des Papstes schwierig. Hinzu kam noch etwas Anderes. Mit seinen Friedensbotschaften machte sich der Papst eigentlich nirgendwo Freunde. Wir müssen in Rechnung stellen, dass überall in Europa, bei allen beteiligten Mächten, die irrsinnigen Verluste des Krieges in materieller und ideeller Hinsicht zu einer ungeheuren Verbitterung geführt hatten.

Alle hatten Millionen von Toten und überall hieß es, dieser Krieg sei notwendig für die Zukunft der Nation, für die Zukunft der Menschheit, und alle kämpften sie für die gerechte Sache. Und nun kommt der Papst aus Rom und sagt: Dieser Krieg ist ein ,unnützes Blutvergießen‘! Das wollte keiner hören und das wollte auch die Öffentlichkeit nirgendwo hören. Das stieß auf Erbitterung auf allen Seiten.“

Nach dem Krieg versuchte er die antiklerikale Regierung Frankreichs zu verbessern. Die Heiligsprechung Jeanne d‘Arcs 1920 gilt dazu als ein versöhnliches Zeichen. Immerhin erreichte er die diplomatische Anerkennung des Heiligen Stuhls durch Frankreich und Großbritannien. Wie gelang ihm das?

Karsten: „Das war auch bedingt durch die politische Großwetterlage. Der Papst war ja bis 1870 nicht bloß Oberhaupt der katholischen Christenheit, sondern auch der Landesherr des Kirchenstaates. 1870 wurde dieser Staat jedoch vom neugegründeten Königreich Italien erobert und der Papst zog sich in den Vatikan zurück. Er hat aber den Verlust dieses Kirchenstaates bis zum Abschluss der Lateranverträge 1929 nicht anerkannt.

Die völkerrechtliche Stellung des Vatikans war bis dahin ungeklärt. Durch die Friedensinitiativen und die humanitären Aktivitäten, die der Vatikan im Ersten Weltkrieg entwickelte, entstand jedoch allgemein die Einsicht, dass es hilfreich wäre, diesen völkerrechtlich ungeklärten Status zu beenden. Der Vatikan setzte sich für Gefangenenversorgung und Verwundetenaustausch ein und hatte sogar einen Suchdienst für Kriegsvermisste.

Sehr vorausschauend waren da die Engländer in ihrer Politik, die schon 1914 einen diplomatischen Vertreter nach Rom schickten, um einen direkten Zugang zum Vatikan auf diplomatischer Ebene zu haben. 1914 standen 14 Staaten mit dem Vatikan in diplomatischen Beziehungen, 1922 waren es bereits 28. Das Papsttum wurde mehr und mehr als moralische Autorität angesehen und auch instrumentalisiert.

Die Heiligsprechung einer französischen Nationalheiligen, die ja als Opfer eines bischöflichen Inquisitionsprozesses auf dem Scheiterhaufen endete, war auch eine Art Selbstkritik auf päpstlich-katholischer Seite. Das Verfahren, das seinerzeit von den französischen Bischöfen eingeleitet wurde, wurde in seiner Gültigkeit wiederrufen und dem französischen Nationalverständnis hier ein Zugeständnis gemacht.“

In seiner „Exhortia Allorché fummo chiamati“ (Exhortatio steht im katholischen Sprachgebrauch für die Ermahnung zum rechten Tun bzw. die Aufforderung zur Buße, Anm. d. Red.) vom 28. Juli 1915 bezeichnete Benedikt XV. den Krieg als „grauenhafte Schlächterei“. Seine Friedensdoktrin wurde fester Bestandteil des kirchlichen Lehramts seiner Nachfolger. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) forderte schließlich, einen Zustand der Welt herbeizuführen, in dem der Krieg völlig untersagt wird. Als letztes soll Benedikt XV. gesagt haben: „Wir wollen unser Leben gern opfern für den Frieden der Welt." Ist das das Vermächtnis an alle seine Nachfolger?

Karsten: „Es ist jedenfalls von all seinen Nachfolgern als solches empfunden worden. Das schlägt sich nieder im Verhalten Pius XII. im Zweiten Weltkrieg, in dem er ganz in den Fußstapfen Benedikt XV.  versuchte, das Papsttum als moralische Autorität aus dem Parteienstreit herauszuhalten, um auf einer anderen praktischen Ebene im humanitären Bereich Handlungsspielraum zu bekommen.

Das spiegelt sich auch im Verhalten Paul VI. während des Vietnamkrieges wieder. Und auch die Namenswahl des vorletzten Papstes, Joseph Ratzinger, in Anlehnung an diesen Vorgänger und seine aufopfernde Tätigkeit im Dienste des Friedens, war bewusst gewählt. Mit Benedikt XVI. wählte er einen Namen mit dem er das Ideal, welches der Arbeit an der Spitze der Kirche entspreche, im besten Sinne verwirklicht sah: die Verhinderung der physischen Austragung von Interessenskonflikten.“