Alle Seiten bedenken

Als Dreijähriger habe ich den englischen Bombenangriff auf Barmen am 30. Mai 1943 miterlebt. Das Haus, in dem wir lebten, wurde total zerstört. Wir haben im Keller überlebt und wurden nach zwei Tagen vom unzerstörten Nachbarhaus aus mittels Mauerdurchbruch gerettet.

Alle unsere Habseligkeiten mussten dabei im Keller zurückgelassen werden, Lebensrettung hatte Vorrang. Beim späteren Versuch, die Habseligkeiten zu bergen, waren diese nicht mehr vorhanden. Plünderer hatten ihr Werk verrichtet.

Einige Zeit später waren meine Mutter und ich wegen Fliegeralarm in einen Luftschutzbunker geflüchtet. Dort befand sich auch eine Frau, die einen Mantel trug, der meiner Mutter im Keller des zerstörten Hauses gestohlen worden war. Anhand von Gebrauchsspuren eindeutig identifiziert. Es stellte sich heraus, dass der Mann der Trägerin des Mantels der Plünderer war. Er wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Zu der Zeit stand auf Plünderung die Todesstrafe, das war sicherlich auch dem Täter bekannt.

Durch die Bombardierung hatte unsere fünfköpfige Familie die Wohnung und alles Hab und Gut verloren. Außerdem wurde die meinem Vater und seinen Brüdern gehörende Firma komplett zerstört: Firmengebäude, Bürohaus und der gesamte Maschinenpark. Dadurch verloren mindestens 50 Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz.

Von einem guten Bekannten habe ich vor längerer Zeit erfahren, dass seine Frau bei Kriegsende nicht mehr die Flucht aus dem Osten Deutschlands geschafft hatte. Sie wurde von Russen an ihr Scheunentor gebunden, vergewaltigt und umgebracht.

Wenn jemand die Gräueltaten eines Krieges auch noch nach Jahrzehnten bewertet, sollten alle Seiten bedacht und nicht einseitig geurteilt werden.

Peter Kehrenberg, Eintrachtstraße

(Rundschau Verlagsgesellschaft)
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