Tumulte, um 8 Uhr, vor dem Schultor. Die Eltern und Viertklässler versammeln sich vor einem Reisebus: drei Tage Klassenfahrt ins grüne Wermelskirchen. Für viele ist es das erste Mal, allein ohne Mama und Papa zu sein. Und für viele Eltern das erste Mal, den Nachwuchs loszulassen. Entsprechend angespannt ist die Stimmung, wobei die Viertklässler das vor ihren Freunden nicht zugeben würden.
Dazwischen steht eine kleine Frau, die lächelt. Heike Hundeiker. Sie kennt jeden, begrüßt die Eltern und die Kinder. An vier Tagen der Woche steht sie zu Schulbeginn und -schluss vor dem Eingang und hält Kontakt zu den Familien. Ihr ist es wichtig, eine Beziehung zu allen aufzubauen und ansprechbar zu sein, „Hilfe anbieten zu können, bevor es brennt“.
Ist die Klassenfahrt nicht schon Ereignis genug, sorgt die Hiobsbotschaft, dass Hundeiker bald weg ist, für Beunruhigung. „Es ist eine Katastrophe, sie hat Familien so viel geholfen“, erzählt eine Mutter. „Ich bin sehr traurig, Kinderbildung ist das A und O unserer Gesellschaft“, sagt eine andere. Eine weitere, die Elternvertreterin, bezeichnet die Schulsozialarbeiterin als „Goldstück“. Dann: Der Bus fährt ab, Hundeiker läuft zum Büro.
Obwohl Heike Hundeiker immer für andere da ist, dreht es sich nun einmal mehr um sie. Seit sieben Jahren ist die 60-Jährige Ansprechpartnerin bei Problemen: Sie ist die Schulsozialarbeiterin der Grundschule Hesselnberg. Einst studierte sie Sozialpädagogik in Bochum und gründete 1991 mit Erziehern und Eltern die zweite inklusive Kita in Münster. Hundeiker redet viel und stellt Fragen. Sie kann Smalltalk, liest aber zwischen den Zeilen. Sie knackt jeden. Sie liebt das Theater, dort hat sie auch einmal gearbeitet.
Doch die wahren Dramen spielen sich im echten Leben ab. Die Nachricht, dass 21 Schulen Anfang der Sommerferien ihren aktuellen Schulsozialarbeiter verlieren werden, sorgte im April für Schlagzeilen. Der Unsicherheit um die zukünftige Finanzierung der Gehälter setzte das Land NRW am 23. Mai nun endlich ein Ende. Die neue Förderrichtlinie sieht zwar die gleichen Mittel wie in den vergangenen Jahren für Wuppertal vor: 1.976.711,17 Euro. Doch sie kommt zu spät. Laut ihrem Arbeitgeber Ogata werde man bei der Entscheidung bleiben und keine Schulsozialarbeiter mehr anstellen.
Wie es weitergeht, weiß Hundeiker deshalb nicht. Die Antragsfrist der neuen Fördermittel fällt auf den 30. Juni – ein knapper Zeitraum für die übrigen Träger. Das alte Problem, dass die Finanzierung der Arbeit langfristig nicht gesichert ist, bleibt weiterhin bestehen. Die Debatte ist altbekannt. Sie wird 2028 erneut aufflammen, wenn das Land die Förderrichtlinie wieder so kurzfristig erneuert.
Im Elterncafé sitzt zusammen, was unterschiedlicher nicht sein könnte. Frauen aus verschiedenen Ländern, doch trotzdem haben sie alle etwas gemeinsam: Sie sind Mütter und wollen es in ihrem neuen Leben in Deutschland schaffen. Also – erst einmal frühstücken. Dabei ist der Tisch so befüllt, dass doppelt so viele satt werden würden. Manchmal schauen ebenfalls Mitarbeiter aus anderen Einrichtungen, wie etwa der Migrationsberatung oder der Junior Uni, vorbei.
Die 47-jährige Elternbegleiterin Schama Matar leitet das Treffen am Mittwoch mit rund 15 Frauen und wird von Heike Hundeiker unterstützt. „Ich will, dass sie bleibt“, sagt sie und drückt die Hand von Heike Hundeiker. Die Eltern mit ins Boot zu holen, ist den beiden sehr wichtig – schließlich prägen sie die Kinder wie niemand sonst. Eine vertrauensvolle Kooperation zwischen Schule und Eltern fördere die Kinder sehr, sagt Hundeiker, die auch einen Deutschkurs anbietet.
Eine Mutter aus dem Kongo, die ihren Namen in der Zeitung nicht veröffentlichen will, weil ihr Ex-Mann nicht weiß, wo sie ist, erzählt: „Ich hatte viel Stress und Fragen, als ich in Wuppertal ankam.“ Als sie Heike kennenlernt, spricht sie kein Deutsch und ist verzweifelt. Die Papierflut an Formularen landet bei Heike: Anmeldungen, Anträge, Versicherungen. „Sie hat mir sehr geholfen, hier anzukommen“, sagt die Mutter, deren Sohn bereits die weiterführende Schule absolviert. Er hätte zu Heike immer „zweite Mama“ gesagt.
Weitere Mütter, wie Zahra Hammadi, werden von Heike zum Deutschsprechen animiert. „Ich kann mich bei ihr öffnen und versuchen, Deutsch zu üben“, sagt Hammadi, deren fünf Kinder alle Heike kennen. Gemeinsam pflanzten sie am Schulhof einen Gemüsegarten und einige lernten zum ersten Mal Rhabarber kennen. Es sind solch teils banale Geschichten, die ihre Wirkung erst zeigen, wenn etwas nicht mehr gut ist. Denn wenn es Probleme gebe, sei es gut, sich schon zu kennen, sagt Hundeiker.
Und die gibt es allemal. Hesselnberg zählt zu den sozial stark belasteten Schulen in Wuppertal. Im Einzugsgebiet wachsen immer mehr Kinder in Armut und schwierigen Lebenslagen auf. In den vergangenen Jahren hat sich die Situation weiterhin verschlechtert. Von 57 Grundschulen in Wuppertal sind laut Sozialindex nur drei in einem noch schwierigeren Umfeld angesiedelt.
Wenn Hundeiker die Schule tatsächlich verlassen muss, könne niemand ihre Arbeit auffangen, sagt Nina Zollfrank im Lehrerzimmer. Die Schulleiterin spricht von einer „ziemlichen Katastrophe“, dass das Land die Stellen nicht früher sichern konnte. Die Schulsozialarbeit sei wie eine Jugendhilfe vor Ort. „Diese sollte nicht mehr in Frage gestellt werden“, sagt Zollfrank. Es gebe einen anwachsenden Teil aus der Gesellschaft, die Hilfe bräuchten. Dabei drehe es sich nicht nur um Schulthemen, sondern um Unterstützung im eigenen Leben.
Hundeiker schließt ihr Büro wieder auf und lässt die Tür weit offen. Jedes der 220 Kinder und deren Eltern können zu ihr kommen, wie etwa eine Schülerin, die sich im Unterricht nicht konzentrieren kann. Gemeinsam reden sie und die Drittklässlerin fängt an, die Matheaufgaben dann doch zu lösen. Irgendetwas ist immer. Von Streitereien auf dem Schulhof bis zur Kindeswohlgefährdung. Um nach Lösungen zu suchen und professionelle Distanz zu wahren, nimmt Hundeiker an Teamsitzungen und Supervisionen teil.
Als Hundeiker der kleinen Adina erzählt, dass sie bald wahrscheinlich nicht mehr da ist, ist Adina besorgt, aber entschlossen. „Wir kämpfen für dich“, sagt die Drittklässlerin – und hat einen Einfall: „Ich gebe dir mein komplettes Taschengeld.“