Fußball-WM 2018 WM in Russland — und wo ist der Staat?

Wuppertal · Die WM-Kolumne des Wuppertaler ZDF-Reporters Martin Schneider in der Rundschau (Teil 5).

 ZDF-Reporter Martin Schneider war in Russland mehrfach im Live-Einsatz. Zuletzt kommentierte er den Achtelfinal-Krimi Kroatien gegen Dänemark.

ZDF-Reporter Martin Schneider war in Russland mehrfach im Live-Einsatz. Zuletzt kommentierte er den Achtelfinal-Krimi Kroatien gegen Dänemark.

Foto: ZDF/Sandra Hoever

Wie schön wäre es, wenn der Fußball mal wieder seine identitätsstiftende Wirkung über Russland und seine Menschen bringen könnte. Sonst sind die Importe mittels FIFA und UEFA ja gemeinhin Kommerz, Kapitalismus und kickende Millionäre. Mein erstes Bild dieser Weltmeisterschaft hat sich noch auf der Netzhaut eingebrannt: Gianni Infantino in der Mitte, links Wladimir Putin, rechts Kronprinz Salman von Saudi Arabien. Das ließ nichts Gutes vermuten für den Rest des Turniers.

Aber abgesehen von Infantino sind die Amts- und Würdenträger nur in einem überschaubaren Maß in alle Welt transportiert worden, der russische Präsident beispielsweise hat sich so klein gemacht, wie man ihn noch nie erlebt hat. Keine Bilder auf der Tribüne, keine "Oben ohne-Fotos" beim Reiten, stattdessen erlebt man einen autokratischen Staat im "laissez faire"-Modus.

Egal wo ich war, ob in Kaliningrad, Wolgograd, Moskau oder zuletzt in Nischni Nowgorod: Menschen feiern, sind fröhlich, so als hätte man ihnen die Fußfesseln abgenommen. Selbst die allgegenwärtigen Sicherheitskräfte ließen sich nach einigen Tagen der Annäherung bereitwillig mit den Fußball-Touristen aus aller Welt fotografieren.

Ist auch das geschickt gesteuerte Staatspropaganda oder haben sich die Menschen einfach verselbstständigt? Mir fällt auf, dass auch im russischen Fernsehen dieses Indoktrinieren, das ich bei früheren Russlandbesuchen in Dauerschleife erlebt habe, weniger geworden ist. Okay, mal empfängt der Präsident frühere Legenden dieses Sports, mal darf der tschetschenische Schreckensherrscher Kadyrow ein Interview im Trainingsanzug seines Lieblingsklubs Grosny geben sowie Mohamed Salah ungefragt und in Abwesenheit die Ehrenbürgerschaft verleihen, aber ansonsten: freudentrunkene russische Menschen, die sich mit Peruanern, Isländern und Senegalesen in den Armen liegen.

Ich denke daran, wie sich Deutschland durch die WM 2006 von seinem Image des Ehrgeizlings und Spießers befreien konnte. Vielleicht sind die Erwartungen zu hoch, dass Russland mehr Demokratie wagt, mehr persönliche Freiheiten seiner Bürgerinnen und Bürger zulässt, aber träumen darf man ja mal …

Do Swidanje, Martin Schneider

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