Fast zwei Jahre danach „Gucci Gang“-Opfer: Kein Geld, keine Entschuldigung

Wuppertal · Mehrere Jugendliche stehen am 21. Mai 2019 im Flur eines Mietshauses an der Heckinghauser Straße. Ein 70-jähriger Bewohner weist sie an, das Haus zu verlassen – unmittelbar danach schlagen und treten mindestens zwei 14-Jährige von ihnen auf ihr Opfer ein. Ein Tag, der alles zerstört. Zwei Jahre dazwischen. Was ist seitdem passiert?

 Vida Polat (links) kämpft gemeinsam mit Rosemarie Gundelbacher um die Opferentschädigungsrente für ihren Mann. Bisher ohne Erfolg.

Vida Polat (links) kämpft gemeinsam mit Rosemarie Gundelbacher um die Opferentschädigungsrente für ihren Mann. Bisher ohne Erfolg.

Foto: Simone Bahrmann

Die Familie des Opfers kämpft immer noch. Um Geld und ein neues Leben. Und die im sogenannten „Gucci-Gang-Prozess“ im Dezember 2019 zu zwei Jahren und vier Monaten Jugendhaft ohne Bewährung verurteilten Täter? Einer ist bereits unter Auflagen wieder frei. Als das Opfer Ali Polat Ende Februar dieses Jahres mal wieder aus dem Krankenhaus kommt – seine Blase und Nieren hatten sich entzündet – müssen ihn vier Pfleger tragen. Das historische Treppenhaus seines Wohnhauses – unüberwindbar. Seine Wohnung – ein Gefängnis. Es gäbe eine bessere Aussicht für den Mann, der 24 Stunden am Tag betreut werden muss. Der als Folge von Hirnblutungen nicht mehr sprechen, gehen, schlafen kann. Wenn denn das Geld dafür da wäre ...

„Der Antrag auf die Opferentschädigungsrente wurde abgelehnt“, sagt Rosemarie Gundelbacher, ehemalige Vorsitzende des Wuppertaler Seniorenbeirats, die die Familie nach Kräften ehrenamtlich auf ihrem Weg irgendwie zurück in ein lebenswertes Leben begleitet. Die Leistungen, so steht es ganz knapp in dem Ablehnungsbescheid des Landschaftsverbands Rheinland, der der Redaktion vorliegt, seien zu versagen, wenn der Geschädigte seine Schäden mitverursacht habe. Zur Erinnerung: Im Prozess ließ sich nicht zweifelsfrei belegen, dass die Hirnblutung, die das Opfer unmittelbar nach dem Angriff erlitten hatte, im Zusammenhang mit den Schlägen und Tritten stand. Aber: Welche Schuld kann jemand tragen, der vor seiner Wohnung fast totgeprügelt wurde? Die Rundschau hat nachgefragt, aber der Landschaftsverband verweist auf das laufende Verfahren und schweigt. Und die Familie? Bleibt ratlos zurück in Fassungslosigkeit.

Dabei könnten Ali und seine Ehefrau Vida Polat bereits Anfang Mai eine barrierefreie Wohnung beziehen. Endlich genug Platz für den riesigen, spezialangefertigten Rollstuhl, Platz im Badezimmer, für all die Geräte, die den 70-Jährigen am Leben halten. Endlich das Haus verlassen können. Ein winziges Stück altes Leben. Aber das neue Leben kostet. Und die Kosten werden nicht vollständig getragen. Ein Auge kann er nicht mehr schließen, es entzündet sich laufend. Die Krankenkasse zahlt 20 Spezial-Augenklappen. Ali Polat braucht 30. Nur ein Beispiel von vielen. Die Rücklagen der Familie sind erschöpft. Vida Polat arbeitet seit 26 Jahren als Krankenschwester, immer noch. Zu Hause wartet ihr Mann. Ein Opfer, das als solches nicht anerkannt wird. „Niemand war hier und hat sich dieses Leben angesehen, niemand, der den Antrag abgelehnt hat, hat sich die Mühe gemacht und sich nach den Umständen erkundigt“, sagt Rosemarie Gundelbacher. Und: „Ich wünsche mir soziale Gerechtigkeit.“ Ein Stück neues Leben, Frieden.

Einer der verurteilten Jugendlichen ist inzwischen wieder zu Hause, direkt auf der anderen Straßenseite. Nicht alle Leben wurden in jener Nacht für immer umgeschrieben. Seine Reststrafe von unter einem Jahr sei wegen guter Führung zur Bewährung ausgesetzt worden, so Amtsgerichts-Pressesprecherin Inka Reuber. Auch wenn die ursprüngliche Jugendhaftstrafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden sei, sei das durchaus üblich. Der Jugendliche werde weitere drei Jahre beobachtet und begleitet.

 Schwerstarbeit: Vier Sanitäter tragen Ali Polat in die Wohnung des Hauses, wo er im Mai 2019 Opfer von lebensgefährlichen Tritten und Schlägen wurde.

Schwerstarbeit: Vier Sanitäter tragen Ali Polat in die Wohnung des Hauses, wo er im Mai 2019 Opfer von lebensgefährlichen Tritten und Schlägen wurde.

Foto: Polat

Entschuldigt haben sich weder die Familie noch die Täter bei den Polats. Manchmal begegnen sie sich auf der Straße. „Die Familie Polat kann dort nicht weiterleben“, sagt Rosemarie Gundelbacher.

Die neue Wohnung würde alles ändern, bezugsfertig im Mai. Der Anwalt der Familie sagt, er habe gegen den Ablehnungsbescheid Widerspruch eingelegt. Wird das Paar doch noch umziehen können? Wenn das Wetter schön ist und die Sonne scheint, schiebt Vida Polat ihren Mann in der Wohnung im zweiten Stock ans Fenster. Dann lächelt er.

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