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Kinderkrankenpflege in Wuppertal: „Da herrscht ein absolutes Vakuum“

Kinderkrankenpflege in Wuppertal : „Da herrscht ein absolutes Vakuum“

Der Pflegenotstand hat viele Gesichter. Auch ein ganz junges, das kaum jemand kennt: Der häuslichen Kinderkrankenpflege gehen trotz bester Arbeitsbedingungen die Fachkräfte aus. Das hat fatale Folgen für die betroffenen Familien. Die Wuppertaler Rundschau hat eine von ihnen besucht.

Kenan Cengiz freut sich darauf, nach den Ferien eingeschult zu werden. Zeigen muss er das allerdings per Augenkontakt. Denn der Sechsjährige hat die aggressivste Form der Spinalen Muskelatrophie. Er kann sich wegen der Erbkrankheit, die bei ihm fast alle Muskeln lahmlegt, kaum bewegen, nicht sprechen und ist auf künstliche Beatmung angewiesen. Dass Kenan trotzdem mit seinen Eltern Müge und Tansel Cengiz sowie den kleinen Brüdern Kerem und Yaman glücklich im gemeinsamen Langerfelder Zuhause leben kann, liegt an 20 Stunden intensiver Betreuung pro Tag, die von Fachkräften der Häuslichen Kinderkrankenpflege Jakim geleistet werden.

Der ambulante Dienst ist der einzige in Wuppertal, der sich komplett auf kleine Patienten spezialisiert hat. Gegründet wurde er im Jahr 2000 von den Kinderkrankenschwestern Claudia Spittmann und Birgit Budnick, die helfen wollten, einen bis dato nicht selbstverständlichen Anspruch umzusetzen: „Jedes Kind hat das Recht, mit seinen Eltern und Geschwistern leben zu dürfen“ – so lautet bis heute das Motto von Jakim.

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Das einzulösen und damit zu verhindern, dass Kinder wie Kenan ihre ohnehin sehr begrenzte Lebenszeit über komplett in der Klinik bleiben müssen, wird aber immer schwieriger, denn die Chefinnen finden kein Personal mehr.

Claudia Spittmann bringt die Situation bei der Suche nach fachlich für ihren Bereich geeigneten Pflegekräften drastisch auf den Punkt: „Da herrscht ein absolutes Vakuum. Es geht nichts mehr!“ 30 Mitarbeiterinnen betreuen bei Jakim derzeit gut 20 Kinder. Der Bedarf für die kassenfinanzierten Leistungen wäre eigentlich viel, viel größer, aber es gibt niemanden, der in der Lage ist, sie zu erbringen.

„Wir könnten Kinder übernehmen ohne Ende“, bestätigt Andrea Scholz aus dem Jakim-Team, die sich heute um den kleinen Kenan kümmert. So wie ganz oft in den vergangenen fünf Jahren haben die beiden an diesem Morgen schon ein strammes Programm hinter sich. Dabei geht’s um die Grundpflege, aber auch um medizinische Behandlungen, Mobilisierung und viele weitere Übungen. „Es wird so viel gemacht, dadurch geht es ihm auch so gut“, ist Mutter Müge Cengiz für die professionelle Unterstützung zutiefst dankbar. Ohne die wäre Kenans Betreuung für die Unternehmerfamilie bei allem Engagement und aller liebevollen Fürsorge kaum zu bewältigen.

Denn auch nachts muss ihr ältester Sohn wegen der Dauerbeatmung permanent überwacht und zudem alle zwei Stunden umgelagert werden. Darum kümmert sich eine Pflegekraft bei der Nachtwache in einer Zehn-Stunden-Schicht. Fällt aber jemand aus Krankheits- oder anderen Gründen aus, dann wird es angesichts der hauchdünnen Personaldecke sofort kritisch. „Wir stehen mit dem Rücken zur Wand“, sagt Andrea Scholz.

Und deshalb wird demnächst auch jeder Schultag für Kenan am seidenen Faden hängen. Der geistig topfitte Sechsjährige ist zwar genauso schulpflichtig wie alle anderen Kinder, kann aber seinen Platz an der Förderschule in der Melanchthonstraße nur wahrnehmen, wenn er komplett von einer Pflegerin mit dem entsprechenden Equipment begleitet wird. Kann die nicht kommen, wird’s nichts. Und dieses Risiko steigt permanent.

Dabei hat Claudia Spittmann schon alles versucht, um neue Kräfte zu finden, war sogar im Ausland erfolglos auf Suche. Das Problem: Kinder sind pflegetechnisch keine kleinen Erwachsenen. Die Kinderkrankenpflege ist daher ein ausbildungsintensives Spezialgebiet, das als Nische neben den großen, in aller Munde befindlichen Feldern der ambulanten und stationären Alten- und Krankenpflege in der Wahrnehmung von Bewerbern offensichtlich ein Schattendasein führt. Claudia Spittmann, die sich selbst als Dozentin in der Nachwuchsausbildung engagiert, bekommt mit Examenskandidaten von vier Fachschulen aus dem Bergischen gerade noch einen Pädiatrie-Kurs mit 25 Leuten zusammen.

„Eigentlich müssten es vier sein“, sagt sie mit Blick auf den Bedarf - und fürchtet, dass die Kinderkrankenpflege noch tiefer unter den Radar gerät, wenn ab 2020 die aus ihrer Warte auf die Stärkung der Altenpflege fokussierte Reform der Pflegeausbildung greift.

Da ihr kleines Unternehmen vorhandene Kräfte auch nicht mit hohen Wechselprämien ködern kann, bleibt Claudia Spittmann und Eltern wie den Cengiz’ aktuell nur eins: immer wieder die besonders guten Arbeitsbedingungen in der häuslichen Kinderkrankenpflege zu schildern. Mit der großen Verantwortung geht nämlich auch eine ganz große Wertschätzung von Seiten der Angehörigen einher, die sie oft über viele Jahre begleiten. „Und wir haben hier eine klassische 1:1-Betreuung über viele Stunden hinweg ohne Fahrstress und Termindruck“, bekräftigt Andrea Scholz.

Wer das zu schätzen weiß und über den nötigen allgemeinen pflegerischen Background verfügt, wird bei Jakim umfassend in das neue Themenfeld eingearbeitet. Es muss sich nur jemand melden. Auf Sicht könnte die Häusliche Kinderkrankenpflege sonst aussterben. Claudia Spittmann flüchtet sich bei dem Gedanken in Sarkasmus: „Wir sind die Dinos der Pflege!“