„Es ist Freitagmorgen: Noch ein letzter technischer Check an unseren Fahrzeugen und eine Funkprobe. Und schon starten wir als Team der Rumänienhilfe Wuppertal (RHW) unseren 47. Hilfstransport nach Nordostrumänien. Die am weitesten entfernten Ziele sind die Grenzgebiete zu Moldawien und zur Ukraine. Sie gehören nach wie vor zu den ärmsten Regionen des Landes.
Abgesehen von kurzen Tank- und Kaffeepausen sowie regelmäßigen Fahrerwechseln erreichen wir nach zügiger Fahrt am Samstagvormittag den Grenzübergang Ungarn-Rumänien bei Borş. Ob wir am Tage oder in tiefer Nacht dort ankommen, jedes Mal, und das seit über 35 Jahren, stehen unsere Freunde aus Oradea bei Sonnenschein, Regen, Sturm, im Schnee oder in bitterer Kälte an einem mittlerweile vereinsamten Einreise-Kontrollpunkt und warten auf uns. Was für eine Wiedersehensfreude! Bewegende Momente! Sie lassen uns die lange Strecke bis hierher vergessen.
Doch noch liegen circa 350 Kilometer bis zum ersten Entladeziel mit Übernachtung vor uns. Endlich! Nach 1.800 Kilometer rollen am frühen Abend unsere Fahrzeuge über den Dorfplatz von Cisnădioara (Michelsberg). Und jetzt nur noch ein paar hundert Meter, dann sind wir am ,Elimheim‘. Hier können wir die Motoren erst einmal abstellen und uns ausruhen. Der Gottesdienst am Sonntagmorgen in der Evangelischen Dorfkirche in deutscher Sprache und der anschließende Kirchenkaffee sind für uns eine willkommene Entspannung und Stärkung.
Im zwei Kilometer entfernten Cisnădie (Heltau) werden die für das Forum gedachten Hilfsgüter abgeladen. Beim traditionellen Gemeinschaftstreffen mit unseren ,Freunden der ersten Stunde‘ erleben wir wieder einmal eine überaus herzliche Gastfreundschaft mit Speisen aus der siebenbürgischen Küche. Und wir informieren uns über die aktuelle Lage vor Ort und im ganzen Land.
Die Reihen der Mitglieder des Forums haben sich jedoch mehr und mehr gelichtet. Einige ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die uns stets bei den Entladungen größerer Mengen von Hilfsgütern für die Versorgung der vielen bedürftigen Menschen in der Umgebung treu geholfen haben, vermissen wir. Sie sind von uns gegangen. An jüngeren freiwilligen Helfern mangelt es. Umso mehr rücken die, die noch da sind, zusammen und sind dankbar, dass wir immer noch an sie denken.
Der Abschied von ihnen wird von Jahr zu Jahr schwerer. In die Sehnsucht nach einem Wiedersehen mischt sich die zunehmende Erkenntnis, dass es nicht allein in unserer Hand liegt, ob und wann wir uns erneut begegnen. Und so sagt Ossi, der Vorstand und Hauptorganisator des Forums, leise und mit wehmütiger Stimme: ,Der liebe Gott möge es uns schenken, dass ihr wiederkommt.‘
Die nächste lange Strecke folgt: Sibiu – Făgarăş – Braşov – Oneşti – Bacău – Puieşti. Der Landarzt in Puieşti wartet schon sehnsüchtig auf den Hilfstransport aus Wuppertal. Er freut sich riesig über unsere Ankunft und informiert sofort den Bürgermeister. Kurz darauf ist auch er da und begrüßt uns herzlich.
Das Ärztezimmer, die Behandlungsräume und der Warteflur der Praxis befinden sich nach wie vor in einer längst abbruchreifen Baracke. Wir kennen die Zustände seit zig Jahren. Für jeden unbefangenen westeuropäischen Besucher als Patient ein Albtraum!
Da der Landarzt nicht nur die Hauptgemeinde Puieşti, sondern auch 28 Dörfer in der ganzen Umgebung medizinisch zu versorgen hat, laden wir hier die größte Menge verschiedener, dringend benötigter Medikamente und andere medizinische und klinische Materialien ab (diverse Verbandstoffe, Antiseptika, Windeln, Desinfektions- und Hygienemittel, Stethoskope, Blutdruckmessgeräte, Rollstühle, Gehhilfen, Orthesen und vieles andere mehr).
Sein großes Glück über die wertvollen, für ihn und seine Patienten so wichtigen Hilfsgüter kann der sonst so ruhige, zurückhaltende und bescheidene Mediziner kaum verbergen. Seine Augen strahlen! Und wir alle, das Team und der Bürgermeister, stehen daneben und freuen uns mit ihm.
Die Zeit drängt. Noch ein kurzer Abstecher bei Nina, einer älteren, liebevollen Frau. Wir kennen sie und ihre Familie seit über 30 Jahren. Iulian, ihr Mann, ist verstorben. Nun sitzt sie mit ihrem erwachsenen, aber kranken Sohn allein auf ihrer Farm mit den großen Früchteplantagen. Sie ist ebenfalls sehr krank und kann weder die Felder bearbeiten noch die Früchte ernten. Selbst wenn sie preiswerte fremde Hilfe von arbeitslosen Landarbeitern in Anspruch nimmt, bringt die Vermarktung der Früchte keinen Gewinn mehr ein. Sie weiß keine Lösung für ihr Leben und vereinsamt zusehends.
Sie und ihr Mann sind nach der Revolution 1989 hierhergezogen, um den Menschen in dieser bitterarmen Region zu helfen. Jahrelang haben sie zuverlässig große Mengen von unseren Hilfsgütern an die notleidende Bevölkerung verteilt. Nun fühlt sie sich allein. Keiner kümmert sich um sie. Noch nicht einmal die dringend benötigten Medikamente kann sie bezahlen.
,Dass ihr immer noch an mich denkt und mich besucht, kann ich kaum fassen. Es tröstet mich. Gott segne euch!‘ Sie sitzt auf einer Treppenmauer und winkt uns nach, während unsere Fahrzeuge langsam das Gelände verlassen. Wir müssen weiter. Der Himmel zeigt an, dass der Abend naht. Wenn möglich, wollen wir vor Einbruch der Dunkelheit in unserer nächsten Station, der 150 Kilometer entfernten Stadt Iaşi, nahe der Grenze zu Moldawien, eintreffen.
Es läuft, wir kommen gut voran und schaffen es. Die viertgrößte Stadt Rumäniens liegt auf einmal unter dem Nachthimmel beleuchtet vor uns. Ein großartiger Anblick. Nach einer gemeinsamen Mahlzeit und einem Gedankenaustausch über das heute Erlebte beschließen wir den Tag und gönnen uns einen erholsamen Schlaf.
Ausgeruht beginnen wir den neuen Tag. Wir sind eingeladen zum Patronatsfest einer orthodoxen Kirche im Westen der Stadt. Mit dem Priester der Gemeinde, Vasile, und seiner ganzen Familie verbindet uns auch hier eine herzliche Freundschaft. Er und seine Frau versorgen mit unseren Hilfsgütern regelmäßig viele bedürftige alte Menschen, vor allem Alleinstehende und Einsame in und außerhalb der Stadt.
Die Herzlichkeit, mit der wir hier empfangen und mit selbstgemachten Speisen versorgt werden, ist ein selbstverständliches Zeichen langjährigen, beiderseitigen Vertrauens.
Wie überall, das ,La revedere‘ (Auf Wiedersehen) fällt uns nicht leicht. Viel Zeit zum Verweilen ist uns nicht vergönnt. Der vor uns liegende Streckenverlauf ist uns weitgehend bekannt. Gewöhnlich passieren wir dieses Gebiet in der Nacht oder am frühen Morgen. Wunderschöne Landschaften, Wälder, Seen und Flüsse. Bis nach Colibiţa überwinden wir unzählige Serpentinen und mehrere Pässe in den Karpaten.
Bei Lutz aus Wermelskirchen, der nach der Revolution 1989 für die notleidende Bevölkerung im Nordosten Rumäniens genauso wie wir bis heute aktiv ist, haben wir die Möglichkeit zu übernachten. Und zwar in einem von ihm für Freizeiten und Erholungen erworbenen älteren Haus. Ruhe und Stille um uns. Mit einem fantastischen Blick auf einen See und die uns umgebenden Berge und Täler!
Das letzte Ziel, für das die auf den Fahrzeugen noch vorhandenen Hilfsgüter vorgesehen sind, ist Oradea. Hier begegnen wir wieder denen, die bei jeder Einreise nach Rumänien und bei jedem Wetter auf uns warten. Ein gut organisiertes Team, das es fertigbringt, sämtliche dort abgeladenen Spendenwaren innerhalb kürzester Zeit den Krankenhäusern, Alten-, Kinder- und Waisenheimen zu übergeben. Häufig geschieht dies bereits am nächsten Tag. So auch dieses Mal.
Welche Begeisterung wir bei den Behinderten und Waisenkindern mit unseren Hilfsgütern auslösen, aber aus Zeitgründen nicht immer miterleben können, fasst einer der hoch engagierten Helfer vor Ort zusammen: ,Unsere lieben Freunde, wenn Ihr wüsstet, was Ihr mit Eurer treuen Hilfe bewirkt, würdet Ihr staunen. Die Nächte sind nicht mehr so schwer für die Kinder und die Alten, die sonst krank und hungrig zu Bett gehen.‘ Worte, die uns still und nachdenklich machen.
Bevor wir mit unserem 47. Hilfstransport Rumänien wieder verlassen und die Rückreise nach Deutschland antreten, kommen wir noch einmal mit unseren Freunden aus Oradea zusammen. Und wieder begleiten sie uns bis zur Grenze.
Was ist es, was uns bisher 35 Jahre lang motiviert und bewegt hat, uns um die Menschen in den Armutsregionen des geschundenen Landes zu kümmern? Gewiss die Überzeugung, dass es zu unserem christlichen und humanitären Verständnis gehört, existenzielle Not und die Folgen der physischen und psychischen Unterdrückung und der Unfreiheit zu lindern. Doch nach unseren vielen großen Hilfsaktionen spüren wir bei denen, die sich durch unsere nicht nachlassenden Unterstützungen gestärkt fühlen, sich ebenfalls für Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit in ihrem von langer Diktatur geplagten Land einzusetzen, eine tiefe, echte Freundschaft.
Durch sie und in ihr entwickelt sich der Wille, den Weg der Hoffnung und Zuversicht in eine menschenwürdige und friedvolle Zeit weiterzugehen und unumkehrbar zu machen. Unser Dank gilt allen, die uns durch Spenden und Gebete geholfen haben, auf diesem Weg zu bleiben.
Im Namen des gesamten ehrenamtlich engagierten RHW-Teams: Arno Gerlach“