Bergische Uni Dr. Dolittle und die sprechenden Tiere

Wuppertal · In der Reihe „Jahr100Wissen“ beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Bergischen Universität mit 100 Jahre zurückliegenden Ereignissen, die die Gesellschaft verändert und geprägt haben. 1920 erschien Hugh Loftings Roman „Doktor Dolittle und seine Tiere“. Im Interview spricht Germanistin Prof. Dr. Irmgard Nickel-Bacon über die Entstehung von Klassikern sowie die Bedeutung und Funktion sprechender Tiere in der Literatur.

 Prof. Dr. Irmgard Nickel-Bacon.

Prof. Dr. Irmgard Nickel-Bacon.

Foto: UniService Transfer

Franz von Assisi konnte angeblich mit ihnen sprechen. Hugh John Lofting hat Geschichten darüber verfasst. Die Rede ist von sprechenden Tieren. „Doktor Dolittle und seine Tiere“ wurde vor 100 Jahren veröffentlicht. Warum sind diese Geschichten so besonders?

Nickel-Bacon: „Sprechende Tiere finden wir in einer der ältesten Erzählgattungen – der Fabel nach Äsop. Hier dienen die Tiere als Spiegel der Menschen. Das ist bei Dr. Dolittle nicht so. Die Tiere sind Individuen, auf die er sich als Arzt einlässt, denen er hilft und die ihm ihrerseits beistehen. Mit Franz von Assisi verbindet Dr. Dolittle ganz sicher das tiefe Verständnis für Tiere. Dr. Dolittle unterscheidet sich aber auch von dem Heiligen, denn er ist ein Kind der Aufklärung. Er betreibt das, was wir heute Schulmedizin nennen. Dr. med. Dolittle praktiziert also eine naturwissenschaftlich orientierte Medizin und hat als Naturforscher fundierte Kenntnisse in Biologie und Geographie. Im zweiten Band öffnet er sich aber auch dem naturheilkundlichen Wissen der Indianer. Auf Gebieten, auf denen andere mehr wissen als er, lässt er sich auch bereitwillig belehren. Heilung, so die Botschaft, ist nur ein Sonderfall von Problemlösung. Möglich wird sie durch solides Wissen, aber auch durch einen verständnisvollen Umgang mit allen Lebewesen. Hugh Lofting hat also eine komplexe Figur erschaffen, die einerseits von einem fast kindlichen Staunen über Naturphänomene geprägt ist, andererseits den wissenschaftlichen Anspruch der genauen Beobachtung hat. Insofern ist Dr. Dolittle für mich der Inbegriff eines herausragenden Wissenschaftlers, der stets offen ist für neue Einsichten und Erkenntnisse.“

Was macht Dr. Dolittle zu einem Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur?

Nickel-Bacon: „Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur zeichnen sich erstens dadurch aus, dass sie von Generation zu Generation weitergegeben werden – von Menschen, die diese Bücher für wertvoll erachten, um sie ihren eigenen Kindern und Enkelkindern weiterzugeben. Ein Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur ist Dr. Dolittle und seine Tiere vor allem im anglo-amerikanischen Raum. Im deutschsprachigen Raum ist es weniger präsent, aber durchaus bekannt. Ein zweites Kriterium für kinderliterarische Klassiker sind verschiedene mediale Repräsentationsformen. Zu Dr. Dolittle gibt es Zeichentrickfilme und eine Spielfilmserie, aber auch zahlreiche Hörbücher, die dem geschriebenen Text naturgemäß am nächsten kommen. Drittens würde ich noch etwas anführen wollen, was in der Forschung weniger genannt wird, aber eine wichtige Rolle spielt: Spannende Geschichten alleine reichen nicht für den Klassikerstatus. Langlebige Klassiker der Kinderliteratur vermitteln Werte, die erwachsene Bezugspersonen der nächsten Generation ans Herz legen möchten. Auch dies scheint mir zuzutreffen.“

Kurt Tucholsky sagt in seiner Kritik, die er als Paul Panter 1925 in der Vossischen Zeitung formuliert „In dem ganzen Buch ist kein Witz, aber alles strahlt vor Humor“ und an einer anderen Stelle „So entstand dieses Buch in seiner fast biblischen Einfachheit und Herzlichkeit“. Wie kommt er darauf?

Nickel-Bacon: „Das hängt mit der Figur John Dolittle zusammen, diesem etwas verschrobenen Einzelgänger, und mit seiner Haltung gegenüber den Tieren. John Dolittle handelt im Geist der Toleranz, aber auch in einem Geist der Solidarität und Hilfsbereitschaft. Dadurch können sich die einzelnen Tiere völlig frei entfalten und sind dafür ausgesprochen dankbar. Der Humor, den Tucholsky benennt, entsteht aus dem Verständnis, das John Dolittle an den Tag legt. Es führt im Verlauf der Handlung immer zu Problemlösungen, auch wenn es einige Durststrecken gibt. Witzig sind aber auch Dolittles Gegenspieler: ,selbstherrliche Autokraten‘, wie der König der Jolliginki oder der König der Löwen, der nicht helfen will, dann selbst Hilfe benötigt. Diese Figuren sind satirisch überspitzt gezeichnet und zeugen ebenfalls von Humor.“

Ein Beitrag im Deutschlandfunk Kultur von 2014 beschäftigt sich mit der Frage: „Wie können Menschen die Sprache der Tiere verstehen?“ An Beispielen von sprechenden Papageien, klugen Hunden, die bis zu 100 Begriffe verstehen oder Delphinexperimenten werden Forschungen vorgestellt, die die Kommunikation zwischen Mensch und Tier verdeutlichen. Aber ist am Ende Sprache nicht doch das Alleinstellungsmerkmal des Menschen?

Nickel-Bacon: „In Dr. Dolittle ist die sogenannte Sprache der Tiere überwiegend metaphorisch zu verstehen, als gelungene Verständigung. Die Behauptung, Dr. Dolittle spreche die Sprache der Tiere, weist also eher darauf hin, dass er bereit ist, sich auf jedes Tier einzulassen. Empathie scheint das A und O für seine Verständigung mit den Tieren zu sein. Wenn an manchen Stellen der Eindruck entsteht, jede Tierart spreche eine eigene Sprache, lösen solche behauptenden Einsprengsel niemals die Komplexität des menschlichen Sprachsystems ein. Betont wird vielmehr das Verständnis von Körpersprache, zum Beispiel wenn das scheue Stoß-mich-zieh-mich dem Doktor sofort ansieht, dass es ihm vertrauen kann, oder wenn der Fischerjunge sagt, ,Du lachst, wie ein Freund‘. Mimisch-gestische Signale werden ernst genommen. In dem Kinderroman geht es hauptsächlich um ein erweitertes Verständnis von Sprache im Sinne von Einfühlungsvermögen.“

In der Literatur gibt es viele Beispiele sprechender Tiere. Das Dschungelbuch, der Zauberer von OZ, Nils Holgersson, Alice im Wunderland, der kleine Prinz oder die Chroniken von Narnia zählen dazu. Kann man mit dieser Parallel-Realität vielleicht Gesellschaftskritik besser transportieren, indem man Tiere sprechen lässt?

Nickel-Bacon: „Gesellschaftskritik durch sprechende Tiere hat eine lange Tradition, wie wir an den Fabeln des Äsop sehen können, die menschliche Verhältnisse widerspiegeln. Lessing hat in seiner Fabeltheorie betont, dass hier Tiere Verwendung finden, damit die Leserinnen uund Leser sich nicht zu sehr einfühlen. In Dr. Dolittle scheint eher das Gegenteil der Fall: Hier wird das sprechende Tier benutzt, um mehr Verständnis für die Tierwelt aufzubringen. Diese Tradition finden wir auch in den Märchen der Brüder Grimm und in der fantastischen Literatur. Die Verständigung menschlicher Protagonistinnen und Protagonosten mit sprechenden Tieren kann unterschiedliche Funktionen erfüllen: einerseits die Funktion des Verständnisses, andererseits gesellschaftskritische Funktion. So zeigt der Blick der Tiere auf menschliche Verhältnisse Ungerechtigkeit, Selbstgefälligkeit und Dummheit, die Menschen aus Gewohnheit (oder aus Angst) einfach hinnehmen. Das scheinbar naive Tier blickt unvoreingenommen auf solche menschlichen Unarten und entlarvt sie.“

Frau Prof. Nickel-Bacon, Lofting hat diese kleinen Märchen als Brieferzählungen seinen Kindern von der Kriegsfront aus nach Hause geschrieben. Ist das Buch vielleicht auch ein Appell an das menschliche Tierverständnis, das eher gehört wird, wenn es Sprache benutzt?

Nickel-Bacon: „Die Erfahrung des ersten Weltkriegs, in dem sich ein regelrechtes Völkermorden abspielte, bildet einen wichtigen Hintergrund für diese Kinderromane. Dem 1920 erschienenen Band folgt eine Serie, deren einzelne durchaus abenteuerliche Episoden eine durchweg pazifistische Grundhaltung durchzieht. So verbietet Dr. Dolittle dem Piraten Ben Ali, weiterhin Menschen zu töten, und verurteilt ihn dazu, künftig als friedlicher Bauer Vogelfutter anzubauen. Die Todesstrafe lehnt er ab. Das ist für die 1920er Jahre eine ausgesprochen fortschrittliche Einstellung, wenn man bedenkt, dass Lofting in den USA gestorben ist und dort noch immer die Todesstrafe vollstreckt wird. Den kindlichen Adressatinnen und Adressaten ist die Projektion von Loftings Friedensbotschaft auf das tierische Figural geschuldet, das im Unterschied zu vielen Menschen immer hilfsbereit und solidarisch handelt. Die Sympathie wird in diesen Büchern positiv auf all jene Lebewesen gelenkt, die ihre Fähigkeiten zur Kooperation und Problemlösung einsetzen. Dagegen bezeichnet John Dolittle im zweiten Band Menschen, die glauben, ihre Probleme mit Gewalt lösen zu können, als „Dummköpfe“. Insofern ist die Gemeinschaft von Dr. Dolittle und seinen Lieblingstieren auch ein utopischer Gegenentwurf zur Destruktivität der menschlichen Zivilisation.“

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