Oper Wuppertal Trauerspiel im Halbdunkel

Wuppertal · Eine Großtat: Die Oper Wuppertal spielt im Erholungshaus Leverkusen „Il canto s’attrista, perché?“ von Salvatore Sciarrino.

 Gegen die Ignoranz der Menschheit hilft auch die schönste Stimme nichts: Niemand glaubt Kassandra (Nina Koufochristou), die das düstere Ende voraussieht.

Gegen die Ignoranz der Menschheit hilft auch die schönste Stimme nichts: Niemand glaubt Kassandra (Nina Koufochristou), die das düstere Ende voraussieht.

Foto: Björn Hickmann

Kassandra sieht das Unheil voraus. Aber niemand glaubt ihr. Der Untergang Trojas hätte verhindert werden können, hätte man auf sie gehört. Aber es liegt ja in der Natur einer ordentlichen Prophezeiung, dass sie den Gang der Dinge nicht ändern kann.

Jetzt hat der siegreiche Agamemnon Kassandra als Beute mitgebracht in seine Heimat, ein Geschenk für seine Gattin Klytämnestra. Die indes wird ihn im Bad ermorden, aus Rache (für Kriegsglück hatte er einst die gemeinsame Tochter Iphigenie geopfert). Sie wird auch die fremde Seherin töten. Kassandra weiß um ihr eigenes und um Agamemnons Schicksal, allein: Man glaubt ihr nicht, wieder einmal. Diese Menschheit ist ein hoffnungsloser Fall.

Salvatore Sciarrino, geboren 1947 in Palermo, hält sich in seiner neuesten Oper „Il canto s’attrista, perché?“ (etwa: „Der Gesang wird traurig, warum?“) eng an den Text des Schauspiels „Agamemnon“, dem ersten Teil der „Orestie“ des griechischen Dichters Aischylos – uraufgeführt 458 v. Chr. Er hat den Text (in italienischer Übersetzung) verdichtet, unter Verzicht auf das Versmaß, das ohnehin dem Stil des Komponisten zuwiderläuft: Lange (gar melodische oder rhythmisch klar strukturierte) Phrasen sind nicht seine Sache. Vielmehr setzt sich die Musik aus kleinen Motiven zusammen, oft wie Seufzer, die allerdings virtuos miteinander verknüpft sind.

Sciarrino ist ja in Wuppertal kein Unbekannter; hier waren ja bereits „Luci miei tradicisti“ (2002), „Infinito nero“ (2004), „Macbeth“ (2006) und „La porta delle legge“ (2009) zu hören und sehen – ein Verdienst von Ex-Intendant Gerd-Leo Kuck (der, wie auch der Komponist, anlässlich dieser Premiere angereist ist). Wie in seinen anderen Werken verweigert Sciarrino auch hier jegliche konkrete Aktualisierung, sondern sucht das zeitlos Gültige: Macht, Gewalt, Schmerz. Man kann „Il canto s’attrista, perché?“ als großen Trauergesang verstehen, beinahe ein Ritual.

Sciarrinos Komposition bleibt fast immer leise, der Ton wird bei den Blasinstrumenten oft mehr angedeutet als tatsächlich gespielt und bewegt sich am Rand des Geräuschs. Trotzdem wirkt die Musik insgesamt (etwas) zugänglicher als bei den früheren Werken, auch eine Spur gesanglicher. Gleichwohl: Einfach zu hören ist das nicht. Man muss sich darauf einlassen (wollen), kann dann aber eine ungemein fesselnde und berührende Musik entdecken, die hier ganz fabelhaft interpretiert wird.

Nina Koufochristou als Klytämnestra und Iris Marie Sojer als Kassandra verleihen ihrem Schmerz mit betörender stimmlicher Schönheit Ausdruck, Simon Stricker ist ein mehr als solider Agamemnon, der junge Countertenor Tobias Hechler brilliert als Wächter, und Timothy Edlin rundet als sehr ordentlicher Herold das Solistenensemble ab, zu dem sich ab und zu noch ein Vokalquartett aus dem Chor gesellt (ganz ausgezeichnet: Marco Agostini, Katharina Greiß, Ja-Young Park und Javier Horacio Zapata Vera).

Der Chor, der gemäß der antiken Tragödie das Geschehen kommentiert, singt vom Rang – und das mit beeindruckender Souveränität und Homogenität (Choreinstudierung: Markus Baisch und Ulrich Zippelius). Am Pult des hervorragenden Wuppertaler Sinfonieorchesters gibt der neue erste Kapellmeister Johannes Witt einen bravourösen Einstand.

Die musikalisch überaus bemerkenswerte Produktion wird in der Inszenierung von Nigel Lowery (der auch für die Ausstattung verantwortlich ist) mehr bebildert als ausgedeutet. Vor der Bühne hängt ein durchsichtiger Schleiervorhang, der das Geschehen wie in einen distanzierenden Nebel taucht. Im ständigen Halbdunkel sieht man schwarze Gestalten, mal abstrakt und irgendwie antik, mal im Stil des 19. Jahrhunderts gewandet, und in der Personenregie undramatisch stilisiert. Allein Kassandra entledigt sich am Ende ihres schwarzen Umhangs und erscheint im strahlenden weiß. Es erscheinen Statisten mit Holzmasken, was eine Nähe zum Puppentheater herstellt.

Im Hintergrund ein schwarz verhülltes Haus; am Ende fallen die Tücher ab – und geben den Blick frei auf eine Holzkonstruktion, die Innenräume nur vage angedeutet. Alles Theater, scheint das sagen zu wollen, und unterstreicht damit noch einmal Sciarrinos Rückbesinnung auf einen allgemeingültigen Mythos. In Videoprojektionen wird der Mord an Agamemnon im Bad angedeutet – ein „lost place“, mehr Ruine als bewohn- oder benutzbarer Raum. Für eine gänzlich neue Oper (die Uraufführung hat im koproduzierenden Klagenfurt stattgefunden) kein schlechter Ansatz.

Den von den Wuppertaler Bühnen reißerisch angekündigten „antiken Thriller“ gibt es allerdings definitiv nicht, weder musikalisch noch szenisch, ganz im Gegenteil. Was man im Erholungshaus Leverkusen, wohin die Wuppertaler Oper nach den Hochwasserschäden im eigenen Haus ausweicht, erleben kann, ist in seiner Konzentration und seiner unspezifischen Trauer ein sehr berührendes, musikalisch exzellent umgesetztes Werk, das sicher zum Besten gehört, was in diesem Jahrhundert für das Musiktheater komponiert wurde.

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