Ehrenamtlich in Ronsdorf Familie Kraus möchte Geflüchteten helfen

Wuppertal · Wenn Menschen kommen, rücken andere zusammen, um ihnen zu helfen. Familie Kraus aus Ronsdorf hat das gemacht und zwei ukrainischen Frauen mit ihren Kindern Heimat gegeben. Nun möchten sie erzählen. Über ihre Erfahrungen mit fremden Nachbarn – und deutschen Ämtern.

Die Eheleute Kraus haben zwei ukrainische Frauen und ihre Kinder bei sich aufgenommen.

Die Eheleute Kraus haben zwei ukrainische Frauen und ihre Kinder bei sich aufgenommen.

Foto: Simone Bahrmann

Als die beiden Ukrainerinnen und ihre Kinder Ende März und Anfang April in Ronsdorf ankamen, setzte sich eine Welle der Hilfsbereitschaft in Bewegung. Im Freundeskreis hatten es Annette und Dieter Kraus vorher schon verkündet: Sie möchten die leer stehende Wohnung in ihrer Altbauvilla in Ronsdorf für Geflüchtete aus der Ukraine herrichten.

Und Whatsapp blinkte. Was braucht ihr? Wie können wir euch unterstützen? Nachbarn und Bekannte klingelten, brachten Kühlschränke, Matratzen, Kleiderschränke. Alles schnell, unbürokratisch. Lebensnahe Soforthilfe und ein ganz großes Gefühl von „Wir schaffen das“.

„Es war überwältigend, total irre“, sagt Dieter Kraus. Seitdem ist ein halbes Jahr vergangen und er sitzt mit seiner Frau Annette am hölzernen Küchentisch, eine Etage über den neuen Mietern, um zu erzählen. Über ihre Erfahrungen mit den neuen Nachbarn, aber vor allem über ihre Erfahrungen als ehrenamtliche Helfer in der deutschen Bürokratie. Denn die schnelle und begeisterte Hilfe aus der Bevölkerung wurde, so erlebten es die Kraus‘, beim Kontakt mit öffentlichen Stellen konterkariert. Und während Familie Kraus privat für die Kriegsflüchtlinge ein Zuhause aus dem Nichts hergerichtet hatte, lähmte sie jeder Behördengang immer mehr.

Der erste Kontakt mit eben jenen Behörden dauerte sechs Stunden. Es war Ende März und Annette Kraus durchlief mit der ersten Frau, die sie aufgenommen hatten, die verschiedenen Büros im „Haus der Integration“ an der Friedrich-Engels-Allee. „Dabei hatten wir großes Glück“, sagt die 63-Jährige. Denn bereits bei diesem ersten Besuch wurde der notwendige Fingerabdruck der Frau genommen.

Bei der zweiten Frau, die eine Woche später bei Familie Kraus einzog, war das nicht der Fall. „Auch mit ihr war ich über fünf Stunden im ‚Haus der Integration‘“, sagt Annette Kraus. Aber die Abnahme des Fingerabdrucks fehlte an diesem Tag – und der ganze Integrationsprozess lag somit über Monate auf Eis.

An die Besuche im „Haus der Integration“ erinnert sich das Ehepaar Kraus als den Anfang einer Reihe von Irrwegen durch die deutsche Bürokratie. Annette und Dieter Kraus sitzen im Gespräch mit der Rundschau Ende September vor ihrem Kalender, zeigen eingetragene Termine, die wieder abgesagt wurden, blättern durch Briefe vom Jobcenter und von der Krankenkasse, die nach dem Poststempel nachweislich über Wochen auf irgendwelchen Schreibtischen gelegen haben müssen, um kurz vor Ende der Frist dann mit mahnendem Ton bei Familie Kraus einzutrudeln.

Annette und Dieter Kraus erzählen von überforderten Mitarbeitern, nicht zu verstehenden Formularen und ihrem trotzenden Willen, den Integrationsprozess begleiten zu wollen. Sie haben selbst Sprachkurse organisiert, planten täglich mindestens eine Stunde für den Kontakt mit Behörden ein. Ganze Sonntage verstrichen zwischen Briefen, Mails und Online-Recherchen.

Und ihre Gäste? Deren Vertrauen in die Hilfe wurde mit jeder Unterschrift auf für sie nicht zu verstehenden Formulare geringer. „Es war ja sogar für uns so vieles nicht nachvollziehbar“, sagt Dieter Kraus. Die Monate verstrichen und ein Anliegen wurde Familie Kraus dringlicher: Vier Kinder lebten seit Monaten in ihrem Haus. Wann werden sie zur Schule gehen können? Im Internet fand sie die Information, dass eine Beratung bei der Stadt stattfinden muss. Dieter Kraus vereinbarte sofort einen Termin – sechs Wochen Wartezeit.

Als die Beratung endlich stattfindet, bekommt Familie Kraus statt der erhofften Zuweisung an eine Schule die Bitte, sich erneut zu gedulden. Und wieder verstrichen Wochen. Zwei Tage vor dem Ende der Ferien fing Annette Kraus mit den Kindern auf dem Schulhof der nahe gelegenen Grundschule die Rektorin ab. Was sollen wir tun? Die Schulleiterin wies sie mit Bedauern ab. Wenige Tage später meldet sich dann endlich das Schulamt.

„Nun gehen sie zur Schule, das ist geschafft“, sagt Annette Kraus, schlägt den Kalender zu und seufzt: „Aber der Wahnsinn wird weitergehen.“ Die Beantragung der Gesundheitskarte, des Schokotickets. Es reißt nicht ab. Sechs Monate Hilfsbereitschaft. Würden sie es wieder tun? Die Eheleute blicken sich an. Ja, da sind auch wirklich schöne Erlebnisse. Im Sommer, erzählt Dieter Kraus, haben sie zusammen draußen gegrillt. Die Frauen kamen mit Speisen aus der Ukraine in den Garten und alle haben gefeiert und gelacht.

Und einmal, fällt Dieter Kraus ein, da war er mit den Frauen beim Zahnarzt. Sie hatten schreckliche Angst. Würde er die Zähne ziehen? Hohe Summen an Geld verlangen? „Hinterher habe ich im Internet gelesen, dass in der Ukraine zwar alle Menschen kostenlos krankenversichert sind, die Ärzte sich aber trotzdem von den Patienten bezahlen lassen. Oft mit utopischen Summen.“

Der Wuppertaler Zahnarzt ist Dieter Kraus und den Frauen noch nachgelaufen. Um ihnen 100 Euro in die Hand zu drücken – als Hilfe. „Für die Frauen war das ein unfassbares Erlebnis“, erzählt Dieter Kraus. „Statt ihnen Geld abzunehmen, hat dieser Arzt ihnen welches geschenkt.“

Sechs Monate Hilfsbereitschaft. Was bleibt? Erinnerungen an Momente, in denen die Nerven völlig am Ende waren, großes Unverständnis. Erinnerungen an viele Begegnungen, manche zermürbend, manche hoffnungsvoll. „Ja, wir würden wieder helfen“, sagt Annette Kraus.

An die Rundschau haben sie sich gewandt, weil sie es für wichtig halten, dass es ein realistisches Bild gibt, was dieses Helfen genau bedeutet. Denn sicher ist in Deutschland nicht alles schlecht, einiges sogar wunderbar. Aber auch sehr vieles, sehr, sehr kompliziert.

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