Prozess nach Mord in Kleingartenanlage Abweisende Gesten und die zerstörte Kindheit

Wuppertal · Im Prozess des wegen Mordes in der Kleingartenanlage Springen angeklagten Wuppertalers wurde am vorletzten Verhandlungstag der psychiatrische Gutachter gehört. Er hält den Angeklagten für vermindert schuldfähig, die Voraussetzungen für eine dauerhafte Unterbringung in der Psychiatrie sieht der Sachverständige hingegen nicht.

     Der Angeklagte beim Prozessauftakt.

Der Angeklagte beim Prozessauftakt.

Foto: Archivfoto: Schümmelfeder

Als der Angeklagte sich die ersten Tränen aus den Augen wischte, hatte Gutachter Dr. Michael Willmann schon mehr als eine halbe Stunde aus dessen Leben berichtet. Ein gewalttätiger Junkie als Vater, der die Familie früh verlassen hatte. Eine drogensüchtige Mutter, über die der 33-Jährige sagt, sie habe sich nicht für ihn interessiert. Noch heute höre er das Klimpern ihrer Armreifen inmitten der abweisenden Gesten, mit denen sie ihm zu verstehen gab, dass sie ihn nicht in ihrer Nähe habe haben wollen.

Die Männer kamen und gingen - und solange sie da waren, schlugen einige von ihnen auch Mutter und Sohn. Wilde Partys, Drogen wurden herumgereicht und es war die Mutter, die sie ihrem Kind angeboten haben soll. Ein Leben im Rausch, in dem der Junge auch noch den Drogenkurier habe spielen müssen. „Ich war das schwarze Schaf“, hatte der Angeklagte dem Gutachter in einer der vielen Gesprächsstunden erzählt. Er hätte es nicht sagen müssen, man konnte es längst ahnen. Am Ende fasste Dr. Michael Willmann die Seelenlage des Mannes, der im Mai 2019 zum Mörder geworden war, so zusammen: „Es war eine Broken-Home-Situation.“ Niemand habe ihm zugehört - auch dann nicht, als er als 13-Jähriger von einem Bekannten der Mutter sexuell missbraucht worden sein soll. Der Mann soll ein städtischer Sozialarbeiter gewesen sein und aus einer Elberfelder Kaufmannsfamilie gestammt haben – in seinem Elternhaus soll er den Jungen mehrfach zu sexuellen Handlungen aufgefordert haben.

Das war in den 1990er Jahren, das Landgericht hatte damals gegen ihn verhandelt und sechs Monate ohne Bewährung verhängt. Dass der Sexualstraftäter den damals 13-Jährigen auch noch mehrfach zum Analverkehr gezwungen haben soll, hatte der nur seiner Mutter erzählt - und die hatte ihm nicht geglaubt. Man könne mit solchen Anschuldigungen nicht das Leben des Bekannten zerstören, also blieben die Vergewaltigungen ungestraft.

Im Leben des nun des Mordes angeklagten Wuppertalers ging das Leben derweilen genauso haltlos weiter, wie es begonnen hatte. Schule abgebrochen, zwei Kinder mit der ersten Freundin und was diese Frau vor Gericht über die gemeinsame Zeit erzählte, trieb einem als Prozessbeobachter die Tränen in die Augen. Nicht nur, weil der Angeklagte offenbar wenig Gelegenheiten hatte, in wohlwollender Umgebung „nachzureifen“. Sondern auch, weil es nun seine Kinder waren, an denen sich die eigene Geschichte wiederholte. Im Drogenrausch die Wohnung demoliert, sich in der Badewanne ertränken wollen und seiner hochschwangeren Lebensgefährtin die Bankkarte klauen, um sie ohne Geld und mit dem Hund wochenlang allein in der Wohnung zurückzulassen: Es war die „Broken-Home-Stuation, Teil 2“. Man habe ihn in die Psychiatrie einliefern lassen wollen, ständig sei die Polizei in der Wohnung gewesen und am Ende hätten die Beamten ihn mitgenommen und in die Zelle gesteckt. Warum? Dass wusste offenbar niemand so genau in seinem Umfeld.

Es folgte eine Odyssee durch Wohnungen und Jobs – und dann war er irgendwann da, der Augenblick, in dem der Angeklagte sich die Tränen aus den Augen wischte. Zuvor hatte er eine Frau kennengelernt, mit ihr hatte er „den schönsten Tag seines Lebens“ in der Kleingartenanlage Springen verbracht. Sie wurde schwanger und war eine Risikogebärende, er kaufte eine Couch für die Gemütlichkeit. Bei der Geburt der Tochter war er dabei – und als der Gutachter davon erzählte, weinte der Angeklagte zum ersten Mal.

Dass das Kind nicht von ihm war, erfuhr er erst viel später – die „Broken-Home-Situation, Teil 3“ war da schon im vollen Gange. Was als große Liebe begonnen hatte, war längst zum Drama geworden, am Ende hauste der Angeklagte im Keller. Von dort aus vagabundierte er drei Wochen lang durch Wuppertal, während er sich von Frösche und Wasser aus der Wupper ernährt haben soll. So hat er es zumindest dem Gutachter erzählt, der über den 33-Jährigen sagt, er sei in dieser Zeit getrieben worden vom „magischen Denken“ und der Hoffnung, wieder mit Freundin und Kind zusammenkommen zu können.

In der illusionären Hoffnung, beide in der Kleingartenanlage zu treffen, habe er sich von einem Autofahrer dorthin mitnehmen lassen. Dort angekommen, sei er irgendwann auf sein späteres Opfer getroffen. Der 58-Jährige soll ihn gebeten haben, ihn oral zu befriedigen – was er dann auch getan haben soll. Dazu soll der Zufallsbekannte ihm davon erzählt haben, auf „kleine Kinder zu stehen“.

Während der Gutachter weiter spricht und von einem Wiederaufleben des Traumas redet, von dem der Angeklagte in diesem Augenblick getrieben gewesen sein soll, weint der ein weiteres Mal bittere Tränen. Aus Sicht des Psychiaters habe sich der unverarbeitet gebliebene sexuelle Missbrauch aus der Kindheit ins Bewusstsein gedrängt und der 33-Jährige habe nach dem homosexuellen Erlebnis spontan auf sein Opfer eingeschlagen. Danach soll er zurück zum Parkplatz gelaufen sein und dort Passanten nach einem Gegenstand gefragt haben, mit dem er „den Pädophilen umbringen“ könne. Fündig sei er kurz darauf auf einem Schuttplatz geworden, mit einem Rohr habe er dem Mann mehrfach ins Gesicht geschlagen. Die später herbeigeeilten Zeugen soll er noch gebeten haben, den Toten beiseite zu schaffen, weil „sowas doch niemand sehen will“.

Nein, eine solche Tat ist durch nichts zu entschuldigen. Und ja, der Angeklagte wird sich trotz verminderter Schuldfähigkeit dafür verantworten und die gegen ihn verhängte Strafe absitzen müssen. Und dennoch, wer hier glaubt, dass man bloß nicht wieder von einer schlechten Kindheit reden solle, dem sei gesagt: In einer rauen Lebenswirklichkeit kann kaum etwas gedeihen. Ein einfühlsamer Psychologe oder auch eine Halt gebende Partnerschaft: Manchmal gibt es später glückliche Umstände, die das traumatisierende Kindheitserleben in eine andere Richtung lenken können. All das scheint dem Angeklagten nicht zuteil geworden zu sein. Ein Gerichtspsychiater war offenbar der erste, dem er sich anvertrauen konnte. Da war es schon zu spät.

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