Hubertus Heil zu Gast in der Junior Uni „Herkunft darf kein Schicksal sein“

Wuppertal · Hubertus Heil (SPD) hat die Wuppertaler Junior Uni für das Bergische Land besucht (wir berichteten). Nachdem der Bundesminister für Arbeit und Soziales sich bei einem geführten Rundgang in einigen Kursen einen Eindruck aus erster Hand machen konnte, nahm er sich Zeit für ein Gespräch mit Rundschau-Mitarbeiter Jan Turek.

 Hubertus Heil vor dem Haupteingang der Wuppertaler Junior Uni in Unterbarmen.

Hubertus Heil vor dem Haupteingang der Wuppertaler Junior Uni in Unterbarmen.

Foto: Jan Turek

Rundschau: Herr Minister Heil, wie sind Ihre Eindrücke von der Junior Uni?

Heil: „Sie ist ein bildungspolitischer Leuchtturm. Hier haben seit 2008 über 7.000 Kurse stattgefunden. Aus privater Initiative heraus bekommen Kinder und Jugendliche Zugang zu Wissen und erlernen Fähigkeiten – technische, naturwissenschaftliche, experimentelle. Es ist toll zu sehen, dass nicht nur die Kleinen richtig Spaß haben, sondern dass auch Ältere Inspirationen fürs Studium bekommen. Ich habe gerade einen jungen Mann getroffen, der darum jetzt Physik studiert. Das ist ein schönes Beispiel, was man tun kann, um Kindern und Jugendlichen Perspektiven zu schaffen.“

Rundschau: Inwiefern kann die Junior Uni ein Vorbild für andere Städte werden?

Heil: „Man kann Dinge nicht immer eins zu eins kopieren. Aber die Grundidee, Kindern und Jugendlichen spielerisch Wissen und Fähigkeiten zu vermitteln – in der Schule und darüber hinaus – und so auch einen Beitrag zu früher Berufsorientierung zu leisten, ist sehr wertvoll. Ich erlebe immer noch, dass in Deutschland, in Zeiten von Fachkräftemangel, zu viele junge Menschen eine ordentliche Berufsausbildung verpassen. Viele Jugendliche haben keinen Schulabschluss und viele haben zwar eine Ausbildung begonnen, diese aber nicht zu Ende geführt. Zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen in Deutschland haben keine abgeschlossene Berufsausbildung. Frühzeitig Wissen, Fähigkeiten und Orientierung zu geben, ist eine feine Sache. Ich wünsche mir solche und ähnliche Beispiele auch anderswo.“

Rundschau: Die Junior Uni wird vor allem durch Wirtschaftsunternehmen und private Sponsoren finanziert. Was halten Sie davon?

Heil: „Es ist toll, wenn Unternehmen sich selbst kümmern. Es ist ja auch in ihrem Interesse. Wo Unternehmen sich engagieren – habe ich den Eindruck, wollen sie nicht auf den Staat warten, sondern haben ein Interesse daran, dass sie guten Nachwuchs in technisch-naturwissenschaftlichen Berufen bekommen. Es ist immer gut, wenn sich Unternehmen in ihrer Region für den Nachwuchs engagieren.“

Rundschau: Es gibt in Deutschland große soziale Ungleichheit, eine große Schere zwischen Arm und Reich. Wie sehr sind die Bildungschancen durch die Geburt vorbestimmt – und inwiefern können Institutionen wie die Junior Uni etwas dagegen tun?

Heil: „Durch die Geburt nicht. Aber zu sehr durch die Herkunft. Das ist leider nicht nur ein sozialdemokratisches Gefühl, sondern auch durch die OECD-Studie für Deutschland belegt. Ich habe den Eindruck, wir waren in Deutschland schon mal weiter – durch die Bildungsreformen der 60er und 70er-Jahre. Ich bin hier in der Stadt von Johannes Rau. Die Bildungsexpansion hat dafür gesorgt, dass die ersten Arbeiterkinder auch zu universitärer Bildung gekommen sind. Man muss aber feststellen, dass in vielen Bereichen diese Türen wieder zugeschlossen wurden. Das können wir uns nicht mehr leisten. Wir müssen Kinder individuell fördern, unabhängig von ihrer Herkunft. Wir haben in der vergangenen Woche zwischen Bundesrat und Bundestag den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in Grundschulen beschlossen. Wir brauchen auch mehr Schulsozialpädagogen. Herkunft darf kein Schicksal sein. Talent und Leistung müssen zählen.“

Rundschau: Was glauben Sie, wie sich die Arbeitswelt in Zukunft verändern wird? Welche Skills werden wichtig sein?

Heil: „Die gute Nachricht ist, dass auch in Zukunft die Arbeit nicht ausgehen wird. Die anstrengende Nachricht ist, dass es in vielen Bereichen andere Arbeit werden wird. Im industriellen Bereich werden Jobs verschwinden. Es wird darum gehen, immer wieder neue Fähigkeiten dazuzulernen. Wir brauchen nicht nur Ausbildung – das ist die wichtigste Eintrittskarte, sondern auch Weiterbildung. Wir werden Bereiche erleben, in denen Arbeit durch digitalen Fortschritt ersetzt werden wird. Wir erleben das gerade im Handel, bei Banken und Versicherungen. Es geht nicht immer nur um betriebliche Weiterbildung, sondern auch um berufliche Neuorientierung. Im Zweifelsfall geht es darum, mit 30, 40 einen neuen Beruf zu lernen. Und es gibt einen Bereich, da wird die Nachfrage nach menschlicher Arbeit steigen: im Bereich der sozialen Dienstleistungsberufe, Gesundheit, Bildung und Pflege. Digitalisierung wird auch dort eine Rolle spielen, aber menschliche Arbeit nicht ersetzen, sondern assistieren. Was ist also zu tun? Ich will, dass wir die Bundesagentur für Arbeit zu einer Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung weiterentwickeln. Ich will, dass in Deutschland Bildungszeiten und Bildungsteilzeiten im Erwerbsleben genauso möglich sind, wie es Elternzeiten heute schon sind, damit Menschen beschäftigungsfähig bleiben. Damit die Beschäftigten von heute die Chance haben, die Arbeit von morgen zu machen, muss das Ziel sein, dass wir eine Weiterbildungsrepublik werden. Wir haben einen demografischen Wandel, einen digitalen Wandel und den Umbau der Industriegesellschaft zur Klimaneutralität. Und das alles in relativ kurzer Zeit. Das wird heftig werden. Ich will, dass wir Arbeitslosigkeit verhindern, bevor sie entsteht: vorsorgende Sozialpolitik.“

Rundschau: Wie kann man es schaffen, Langzeitarbeitslose wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren anstatt nur die Armut zu verwalten?

Heil: „Das Wichtigste ist, erwachsenen Menschen Arbeit zu bringen. Wir müssen Chancen für die Menschen schaffen, die ganz, ganz lange draußen sind. Wir haben den sozialen Arbeitsmarkt auf den Weg gebracht, der langzeitarbeitslosen Menschen die Chance auf öffentlich finanzierte Beschäftigung gibt. Das sind Leute, die vier, fünf, sechs oder mehr Jahre draußen sind und selbst bei einer guten Lage am Arbeitsmarkt objektiv keine Chance haben. Mit dem sozialen Arbeitsmarkt haben wir es geschafft, immerhin mal 54.000 Menschen in sozialversicherungspflichtige Arbeit zu bringen. Ansonsten gilt, dafür zu sorgen, Arbeitslosigkeit zu verhindern, bevor sie entsteht. Durch Qualifizierung. Und wir müssen dafür sorgen, dass wir Kindern, die in der Grundsicherung aufwachsen, besser helfen, mit einer eigenständigen Kindergrundsicherung und mehr Chancen auf Teilhabe und Bildung. Das ist die wichtigste Maßnahme, um Kinder davor zu bewahren, dass Armut sich vererbt und sie zu einem selbstbestimmten Erwerbsleben kommen, zu Ausbildung und Arbeit.“

Rundschau: Aktuell wird über Corona-Tests am Arbeitsplatz und über eine Auskunftspflicht hinsichtlich des Impfstatus‘ diskutiert. Was halten Sie davon?

Heil: „Ich finde, dass wir für beides gute Lösungen gefunden haben. Das Wichtigste ist, dass sich Menschen impfen lassen. Das ist die einzige Chance, dass wir da rauskommen. Ich habe vor kurzem auf einer Corona-Station erlebt, wie Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger um das Leben von Menschen mit schweren Verläufen kämpfen. Für die ist es besonders frustrierend, wenn sie abends Leute treffen, die hinterfragen, ob man sich überhaupt impfen lassen sollte. Es ist eine Frage der Eigenverantwortung aber auch der Solidarität, sich impfen zu lassen. Zweitens müssen wir dafür sorgen, in der vierten Welle Infektionen gering zu halten. Das geht durch die 3G-Strategie – geimpft, getestet oder genesen – im öffentlichen Raum. Wir haben die Lösung gefunden, dass in Bereichen der Arbeitswelt, wo es ein hohes Infektionsrisiko gibt, der Arbeitgeber wissen kann, welchen Impfstatus Menschen haben. In anderen Bereichen bleibt es bei der Testangebotspflicht. Arbeitsschutz und das Infektionsschutzgesetz sind wichtig, um mitzuhelfen, dass die Arbeitswelt möglichst nicht zum Infektionsort wird. Durch Impfen und solche Strategien können wir Lockdown-Maßnahmen verhindern und die Schließung von Schulen und Kitas abwenden.“

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