Evergreen Mit 40 Jahren auf die Uni

Wuppertal · „Lebenslanges Lernen“ ist ein immer häufiger bemühtes Schlagwort. Auf Luise Thiel (95) aus Wuppertal trifft es zu wie auf kaum jemand sonst. Eine bemerkenswerte Vita.

 Die 95-jährige Luise Thiel ist ein lebendiges Beispiel für „Lebenslanges Lernen“.

Die 95-jährige Luise Thiel ist ein lebendiges Beispiel für „Lebenslanges Lernen“.

Foto: Bergische Uni

Die beginnt 1924 in Barmen und führt Luise Thiel mit 13 auf die Privathandelsschule Dr. Flockenhaus in Barmen, in der sie parallel zur Schule Stenographie und Schreibmaschine lernte. „Ich konnte also 120 Silben Stenographie und zehn Finger blindschreiben. Das war ein Riesenvorteil“, erklärt sie und konnte sich damit bei ihrer Bewerbung in einem Architekturbüro gegen 129 Bewerber durchsetzen.

Es folgte das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte: Der Angriff 1943 beraubte die Familie ihrer Existenz und dem zweiten Angriff 1945 fiel dann auch ihr Vater zum Opfer. „Und dann standen wir da, meine Mutter, die kleine Schwester und ich. Meine Mutter sagte: Ja, und was machen wir jetzt? Ich sagte: Wir machen weiter! Es geht nicht anders.“ Dieses „Weitermachen“ sah so aus: 18 Jahre lang lenkt sie an der Seite ihrer Mutter die Geschicke des Lebensmittelgeschäfts, besorgt Waren vom Großmarkt, verkauft, rechnet ab. Und trotzdem, sagt sie, „ich habe das gar nicht gerne gemacht“.

Ein Zufall ändert dann noch einmal ihr Leben. Die überraschende Kündigung des Ladenlokals 1961 zwingt Luise Thiel dazu, über eine andere Zukunft nachzudenken. Es ist der guten Kundschaft des elterlichen Geschäfts zu verdanken, dass sie eine weitere Chance erhält. Der ehemalige Leiter der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal, Professor Hermann Schlingensiepen, engagiert sie als Mitarbeiterin. Thiel tippt Bücher, schreibt seine Korrespondenzen: „Er hatte einen riesigen Briefwechsel, Martin Buber und der Papst, da kam alles vor“, sagt sie und erklärt: „Das war natürlich eine außerordentlich gute Lehre.“ Für die nächsten zwei Jahre schreibt sie, liest und erweitert ihren Horizont.

Mit 40 kam dann die nächste zufällige Wende in Luise Thiels Leben: Weil Lehrermangel herrschte, konnte sie nach einer Begabtensonderprüfung mit 40 Jahren an der Pädagogischen Hochschule auf der Hardt noch ein Studium beginnen. Auf den erfolgreichen Abschluss folgte eine lange Zeit in Klassenzimmern, zuletzt von 1968 bis zur Pensionierung 1988 an der Hauptschule in Oberbarmen. „Ich war sehr gerne im Amt“, sagt Luise Thiel, die aber immer neugierig blieb.

Mit Blick auf viele schöne Erinnerungen an das Studium auf der Pädagogischen Hochschule nimmt sie die Seniorenangebote der Bergischen Universität in den Fokus. Sie informiert sich vor Ort, trägt sich als Gasthörerin ein und besucht in den nächsten 13 Jahren viele Veranstaltungen im geisteswissenschaftlichen Bereich. Die Theaterseminare der Literaturwissenschaftlerin Dr. Heinke Wunderlich beeindrucken sie dabei am stärksten.

Und damit noch nicht genug: Luise Thiel schließt sich mit 68 Jahren einer studentischen Theatergruppe an, steht im Haus der Jugend als Madame Rosemonde in Hamptons „Gefährliche Liebschaften“ auf der Bühne und und bewirbt sich für Filmaufnahmen in der Stadthalle. So landet sie auch noch als Statistin im Film-Klassiker „Aimée und Jaguar“. „Es gab eine Woche lang Proben. Das war sehr interessant, schon allein diese ganze Atmosphäre beim Filmdreh und die Klappen! Ich habe das alles sehr genossen.“

2009 zieht sie mit ihrer Schwester in ein neugebautes Reihenhaus im Münsterland. Die umtriebige Seniorin findet alsbald einen Malkurs, den sie seitdem jeden Montagvormittag besucht, und wird Vorleserin einer sehbehinderten Dame in einem Literaturkreis. „Lebenslanges Lernen“ ist also sogar noch zu kurz gegriffen.

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