Corona und Digitalisierung Die Pandemie wirkt wie ein Brandbeschleuniger

Wuppertal · Nach der Stilllegung des sozialen Lebens bleibt nur die Flucht ins Digitale. Doch wie nachhaltig ist der digitale Aufwärtstrend? Welche Stolperfallen birgt der abrupte Wechsel ins Homeoffice – und welche digitalen Konsequenzen zieht der Handel aus dem Lockdown?

 Prof. Tobias Meisen hofft auf nachhaltige Veränderung.

Prof. Tobias Meisen hofft auf nachhaltige Veränderung.

Foto: Uni Wuppertal

„Digitalisierung ist nicht nur Technologie, sondern auch Organisation und Akzeptanz“, erklärt Prof. Dr.-Ing. Tobias Meisen. Er forscht am Lehrstuhl für Technologien und Management der Digitalen Transformation an der Bergischen Uni und verfolgt die Corona-bedingten digitalen Entwicklungen mit großem Interesse. Egal ob privat oder beruflich, die Digitalisierung hat zwar bereits vor Corona Einzug in unseren Lebensalltag genommen, doch die Pandemie wirkt wie ein Brandbeschleuniger.

Plötzlich entdecken Händler den Benefit von Plattformen wie Instagram und Facebook, erkennen Arbeitgeber und -nehmer, dass Homeoffice kein Arbeitsvermeidungskonzept ist, und erfreuen sich Oma und Opa an der Videotelefonie-Funktion ihres Smartphones, die es ihnen zumindest digital ermöglicht, an der Entwicklung ihres Enkelkindes teilzuhaben. „Diese Phase muss für Transformationsprozesse genutzt werden“, richtet Prof. Tobias Meisen seinen Blick in die Zukunft.

Die Wuppertaler Stadtverwaltung ist bereits erste Schritte in diese Richtung gegangen. „Vor der Pandemie konnten sich 800 Beschäftigte der Kernverwaltung von zu Hause aus ins Netz einwählen. Ganz schnell haben wir die Zahl auf 2.000 erhöht – und das läuft problemlos“, erklärt Stadtdirektor Johannes Slawig die Digitalisierungs-Fortschritte. Der Stadtkämmerer setzt sich dafür ein, „nach Corona“ nicht wieder in alte Arbeitsweisen zurück zu verfallen. „Durch Homeoffice-Regelungen spart man ja auch Platz“, sagt er und bezieht sich dabei vor allem auf die geplante Belegung der Bundesbahndirektion durch einige Abteilungen der Stadtverwaltung.

Stolz ist Slawig zudem auf die Digitalisierung der kompletten Verwaltungs-Eingangspost. Geplant war dieser Schritt schon lange, Corona hat die Umsetzung beschleunigt. Dreieinhalbtausend Schriftsätze werden täglich eingescannt und digital weiterverschickt. Zusätzlich hat die Mitarbeiter-App der Kernverwaltung an Bedeutung gewonnen. „Die gab es zwar schon vor Corona, aber mittlerweile werden viel mehr Informationen darüber ausgetauscht, die auch die Mitarbeiter erreichen, die nicht den ganzen Tag am Computer sitzen.“

 Stadtkämmerer Johannes Slawig freut sich über die Digitalisierungs-Fortschritte der Stadtverwaltung.

Stadtkämmerer Johannes Slawig freut sich über die Digitalisierungs-Fortschritte der Stadtverwaltung.

Foto: Max Höllwarth

Prof. Tobias Meisen bremst die Euphorie ein bisschen. Den Satz „In den ersten Wochen ging es ja, aber jetzt kommen wir an Grenzen“ hat er in den letzten Wochen von Unternehmen, die er im Zuge seiner Forschung begleitet, mehr als einmal gehört. „Es fehlt an Organisationsstruktur, die Unternehmen sind nicht dafür ausgestattet, alle Prozesse zu digitalisieren. Manchmal scheitert es schon an einer Unterschrift“, gibt Meisen zu bedenken. Auch bei der Wuppertaler Stadtverwaltung klappt nicht alles reibungslos.

Eine Schwachstelle gibt Stadtdirektor Slawig unumwunden zu: das System für Videokonferenzen. In diesem Punkt hatte es bereits öffentliche Kritik vom CDU-Kreisvorsitzenden Dr. Rolf Köster gegeben, da die Stadtverwaltung dem Wunsch nach Ausschusssitzung per Videokonferenz (noch) nicht nachkommen konnte. „Das ist sehr unangenehm“, kommentiert Slawig. Man arbeite daran, das System nachzurüsten und für die Zukunft neue Plattformen zu erproben.

Doch nicht nur Unternehmen funktionieren plötzlich digital. „Mit Blick auf den Handel sieht man, dass kleine Händler Instagram und Facebook plötzlich als Plattformen begreifen, über die sie ihre Kunden erreichen können“, sagt Meisen. Trotzdem, da ist sich der Experte sicher, wird sich die Verlagerung ins Digitale gerade im lokalen, inhabergeführten Einzelhandel nicht nachhaltig tragen. Was fehlt, sind Laufkundschaft und Spontankäufe. „Aber sie begreifen das Digitale jetzt als zusätzliche Absicherung.“ Als digitales, zweites Standbein, auf das man sich in Krisenzeiten stützen kann.

 Nicole Größler von „smukke ting“ schätzt in der Krise die Kommunikation über digitale Plattformen.

Nicole Größler von „smukke ting“ schätzt in der Krise die Kommunikation über digitale Plattformen.

Foto: Wuppertaler Rundschau

Nicole Größler, Inhaberin des Ladens „smukke ting“ im Luisenviertel, kommuniziert mit ihren Kunden aktuell über Messenger-Dienste, führt per Video-Telefonat durch den Laden und verbreitet Neuigkeiten über Facebook. „Auf einmal wirst du von der Außenwelt abgeschnitten. Ich bin ein analoges Herzensgeschäft, und wenn das weg fällt, fragst du dich: Wie komme ich jetzt an die Leute ran?“, erzählt sie.

Ein Online-Shop, da ist sie sich nach wie vor sicher, passe nicht zu ihrem Geschäft. Dank digitaler Kommunikationsplattformen ließ sich während der Corona-bedingten Schließung zumindest der Kontakt zu Stammkunden halten.

Auf die Frage, wie fragil das Digitalisierungs-Gebilde sei, das die Gesellschaft in Windeseile aus dem Nichts errichtet habe, antwortet Prof. Tobias Meisen: „Corona wird uns noch lange im Kopf begleiten.“ Natürlich werde es Unternehmen geben, die in alte Muster zurückfallen, aber ebenso Firmen, die digitale Strukturen entwickeln, um ein Corona-Szenario besser auffangen zu können. „Die Angst, die wir gerade erfahren, wird zum Umdenken führen.“

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