Eine kleine Motte, die lieber ein Schmetterling wäre, aber schließlich ihr Mottendasein akzeptiert. Ein kleiner Drache, der lernt, seine Wut in den Griff zu bekommen. Ein Spatz, der „Nein“ zu Mutproben sagt und damit ausgesprochen mutig ist: Maximilian liebt die neue „Bilderbuchapotheke“ im ökumenischen Stadtteiltreff "Krawatte", in der sich die evangelische Kirchengemeinde Heckinghausen engagiert. Mit Lesepatin Karin Mann zieht er sich gerne in die Bibliothek zurück, um ein paar Bücher zu lesen und sich vorlesen zu lassen.
Der achtjährige Junge, dessen Eltern nach Deutschland geflüchtet sind, gehört zu den Grundschulkindern, die regelmäßig in die Pädagogische Werkstatt nach Wuppertal-Heckinghausen kommen. Die Lernwerkstatt ist ein gemeinsames Bildungsprojekt der evangelischen Kirchengemeinde Heckinghausen, des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF), des Kommunalen Integrationszentrums und der Stadt Wuppertal. Weil sie in einer ehemaligen Krawattenfabrik unterbracht ist, sprechen alle nur von der „Krawatte“.
Rund 85 Ehrenamtliche bieten hier pro Woche für rund 150 Kinder und Jugendliche Spielenachmittage, Kunstprojekte, Hausaufgabenhilfe und Leseförderung an. Eine von ihnen ist Lesepatin Karin Mann.
Lese- und Beziehungsfähigkeit stärken
„Viele Kinder, die wir begleiten, stammen aus geflüchteten und armen Familien und brauchen nicht nur Leseförderung“, erklärt die Leiterin des ökumenischen Stadtteiltreffs, Dorothee van den Borre. „Sie haben den Verlust der Heimat und Ausgrenzung erlebt und reagieren mit Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsverzögerungen. Sie brauchen Zuwendung, Trost und Ermutigung. Das wollen wir ihnen mit unserer neuen Bilderbuchapotheke geben.“
In den Büchern werden Themen aufgegriffen, mit denen die Kinder täglich zu tun haben und Wege aufgezeigt, wie sie damit umgehen können: Ausgrenzung und Mobbing, weil sie „anders“ sind und die deutsche Sprache noch nicht gut sprechen, Wut, weil sie sich einsam fühlen oder Rückzug in die Sprachlosigkeit, weil sie sich selbst nichts mehr zutrauen.
Bilderbuchapotheke für Grundschulen
Nicht nur in der Lernwerkstatt, sondern auch in einer Grundschule des Stadtteils wird die „Bilderbuchapotheke“ von den Lesepatinnen und -paten eingesetzt. Weil viele Kinder Probleme haben, sich zu konzentrieren und zu öffnen, nutzt Lesepatin Carla Zenker für ihre Einsätze zwei Marionetten: einen Tiger und eine Schildkröte. Beide sind Hauptfiguren des Bilderbuchs „Tiger-Tiger, ist es wahr?“
Darin wird die Geschichte eines kleinen Tigers erzählt, der sehr unglücklich ist, weil er glaubt, dass seine Eltern und seine Freunde ihn nicht mehr mögen. Eine alte, weise Schildkröte stellt ihm vier Fragen und macht ihm damit klar, dass nicht die Dinge selbst ihm Probleme bereiten, sondern das, was er darüber denkt. „Genau diese Fragen kann ich mit den Marionetten sehr viel direkter stellen“, ist Carla Zenker überzeugt.
Intensive Schulungen für Lesepatinnen und -paten
Für den Fall, dass die Lesepatinnen dabei auf Traumata und größere psychische Probleme stoßen, gibt es Unterstützung durch eine Kinder- und Jugendpsychotherapeutin. Sie schult die Ehrenamtlichen und berät die Mitarbeitenden des Projekts, wo professionelle Hilfe angefragt und vermittelt werden kann.
„Uns ist wichtig, dass die ehrenamtlichen Lesepaten zunächst in fünf Modulen im Umgang mit den Büchern, kindlicher Entwicklung und Gesprächsführung geschult werden“, erklärt Dorothee van den Borre. Die Lehrkräfte oder Fachkräfte der Kooperationspartner schlagen dann einzelne Kinder für die Teilnahme an der Bilderbuch-Apotheke vor. Die Leseparten lesen in der Krawatte oder an der Grundschule Meyerstraße gezielt mit den Kindern.
„Beim gemeinsamen Lesen entsteht eine Beziehung. Vertrauen und Zutrauen wird gestärkt“, beobachtet Dorothee van den Borre. „Und genau diese Fähigkeiten sind nötig, damit sich geflüchtete Kinder in unsere Gesellschaft integrieren und zugehörig fühlen. Unser Projekt sehe ich daher auch als einen wichtigen Beitrag zur Prävention vor Radikalisierung und Gewalt", betont sie.