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Bergische Uni Wuppertal: Ohne Vertrauen keine Pflege

Bergische Uni : Ohne Vertrauen keine Pflege

Die Ethikerin Heike Baranzke (Bergische Universität Wuppertal) über Behandlung, Pflege und die Gefühlsarbeit mit Menschen mit Demenz.

Eine Studie der Weltgesundheitsorganisation prognostiziert, dass es bis 2030 ca. 40 Prozent mehr Menschen mit Demenz geben wird … und kein Land ist darauf vorbereitet! In der Pandemie und den damit verbundenen Berichten über den Pflegenotstand in Krankenhäusern und Altenpflegeheimen wurde die Bevölkerung ausführlich informiert.

Gesundheitseinrichtungen ringen um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und zahlen gar im Vorfeld Boni. Aber was bedeutet das für uns als Gesellschaft, wenn immer weniger Menschen sich für den Pflegeberuf entscheiden? Die verbleibenden Pflegenden werden zwangsläufig noch weniger Zeit mit den hilfsbedürftigen Menschen verbringen.

Dr. Heike Baranzke, Ethikerin in der Katholischen Theologie an der Bergischen Universität, sieht die Entwicklung dieser drohenden Auswirkungen mit Sorge und fragt: „Sollen wir uns denn damit abfinden, dass es immer weniger Pflegekräfte gibt?“ Nach ihrem Dafürhalten gelte es zunächst einmal, das Verständnis von Pflege zu klären.

Was verstehen wir unter Pflege?

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„Pflegekräfte verlassen ihren Beruf, weil sie aufgrund falscher ökonomischer Anreize, dazu gehört das Kaputtsparen des Gesundheitswesens seit Einführung der Pflegeversicherung Mitte der 90er Jahre, an einer herabwürdigenden und zu engen Auffassung von Pflege leiden, die ihnen immer weniger Zeit mit Hilfsbedürftigen zugesteht“, stellt Baranzke unmissverständlich fest und formuliert es im weiteren noch drastischer: „Die menschliche Beziehungsdimension kommt regelmäßig zu kurz. Pflegekräfte sehen sich in der öffentlichen Wahrnehmung als ,Arschwischer‘ disqualifiziert. In dieser zynischen Selbstbeschreibung der Pflegefachkräfte kommt die gesellschaftliche Kränkung des Berufsstandes zum Ausdruck!“

Es werde überhaupt nicht anerkannt, dass seit Jahren die Zeit für eine qualifizierte Beziehungsarbeit mit den ihnen anvertrauten hilfsbedürftigen Menschen beschnitten würden. Damit komme die unverzichtbare menschliche Beziehungsdimension im pflegeberuflichen Handeln regelmäßig und programmatisch zu kurz. „Dabei wählen Menschen den vielseitigen und sehr anspruchsvollen Pflegeberuf nicht zuletzt gerade wegen der sozialen Dimension, an deren Ausübung sie dann permanent strukturell gehindert werden.“ Sie stünden unter einem enormen Zeitdruck.

Die daraus resultierende Frustration darüber, ihrem Dienst an den Menschen in grober und andauernder Weise nie gerecht werden zu können, sei der eigentliche Grund, warum Pflegende häufig ihren Beruf verlassen. Zwar verfügten Gesundheitsberufe über spezifisch naturwissenschaftlich-medizinisches Wissen, aber dieses Wissen müsse im Kontext von Beziehungen zu Personen angewendet werden, insbesondere beim Pflegeberuf. Insofern stehe der Pflegeberuf dem Berufsfeld der sozialen Arbeit nahe, insbesondere im Bereich der ambulanten Pflege sowie der Altenpflege.

„Pflegeberufe sind also primär soziale Interaktionsberufe mit besonderer medizinischer Qualifikation“, sagt Baranzke, „nicht aber medizinisch-technische Reparaturberufe.“ Die fehlende Wertschätzung der psychosozialen Kommunikationskompetenzen werde innerhalb der Pflegeberufe beklagt. Neue Studien zur Arzt-Patienten-Beziehung belegten, dass die Vernachlässigung der Kommunikation Heilungsprozesse beeinträchtigen und im schlimmsten Fall sogar Menschenleben kosten könne. Daher müsse der Stellenwert der psychosozialen Sorgetätigkeiten, der auch die Angehörigenbetreuung umfassen müsse, in allen Gesundheitsberufen deutlich angehoben werden, fordert die Ethikerin.

Adäquater Umgang mit Menschen mit Demenz gleich gesellschaftliche Chance?

„Welches Menschenbild leitet denn unsere moderne, funktionale, beschleunigte Hochleistungsgesellschaft, die ja sogar kognitiv kompetenten Menschen im leistungsfähigen Alter zusetzt?“, fragt daher die Wissenschaftlerin und verweist auf die vielen Burn-out-Fälle in der Pflege.

Kaum bekannt ist, dass das Phänomen des „Burn-out“ am Beispiel der Pflegeberufe erstmals beschrieben worden ist. Menschen mit Demenz, die dem stets wachsenden Leistungsdruck nicht mehr gewachsen sind und dann entsprechende Widerstände entwickelten, könnten folglich sogar als eine gesellschaftliche Chance für ein Umdenken betrachtet werden, erklärt sie. Denn „Menschen mit fortgeschrittener Demenz zeigen das bemerkenswerte Verhalten, dass sie pflegerisch-technische Behandlungen erst gar nicht zulassen, wenn der psychosoziale Beziehungsaufbau nicht stattgefunden hat. Wenn sie nicht vorher ein Vertrauensverhältnis hergestellt haben, brauchen sie mit der Körperpflege erst gar nicht anfangen. Da sind Menschen mit Demenz richtige Revoluzzer, kann man sagen. Sie reagieren dann mit dem sogenannten ,herausfordernden Verhalten‘, in dem die pflegewissenschaftliche Forschung der letzten Jahrzehnte unerwarteterweise viel Vernünftigkeit entdeckt hat.“

Denn vielfach drücken von fortgeschrittener Demenz betroffene Menschen nonverbal unerkannte Schmerzen aus, angefangen beim Zahnschmerz bis hin zu Tumorschmerzen – ein hochbedeutsames Problem, das auch auf medizinischer Seite vielfach noch nicht ausreichend bekannt ist. Außerdem wollen Menschen mit Demenz durchweg als soziale Interaktionspartner anerkannt werden. Sie leiden sehr unter sozialer Exklusion.

Die Arbeit und Betreuung von Menschen mit Demenz ist zweifelsohne herausfordernd und sozial anstrengend. Doch man solle nicht glauben, dass Pflegekräfte daher diesen Beruf ablehnen. Baranzke hat da ganz andere Erfahrungen gemacht. „Ich habe im Rahmen eines DFG-Forschungsprojektes an der deutschlandweit einzigen pflegewissenschaftlichen Fakultät der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Vallendar (die einzige pflegewissenschaftliche Vollfakultät Deutschlands, die im letzten Jahr geschlossen wurde -Anm. d. Red.) nicht wenige professionelle Betreuungspersonen in Altenpflegeheimen kennengelernt, die ihre Arbeit mit Demenzerkrankten sehr lieben und als zutiefst befriedigend erleben, wenn sie denn so arbeiten dürfen, wie sie wollen. Es gibt da regelrechte Naturtalente und auch immer wieder viel zu lachen, denn Humor ist in diesem Arbeitsfeld enorm wichtig.“ So gesehen fordern Menschen mit Demenz ein gesellschaftliches Umdenken geradezu heraus, dem wir uns alle stellen müssen.

„Wenn man sich auch mal der Führung einer demenzerkrankten Person überlässt, von der Bedeutung von Worten abstrahiert und gemeinsam singt oder sich im Tanz führen lässt, führt das zu Interaktionen auf einer anderen Ebene. Wir müssen uns nur darauf einlassen, so wie wir uns ja auch auf Kinder einlassen. In beiden Fällen ist es die emotionale Ebene, auf die wir uns einschwingen können. Allerdings wollen Demenzbetroffene nicht wie Kinder behandelt werden. Sie wollen vielmehr mit ihren Lebenserfahrungen und ihrer individuellen Biografie respektiert werden. Hier liegt ein bedeutsamer Unterschied zum Vergleich mit Kindern.“

Der schlimmste Ort im Gesundheitswesen

„Es gibt mit Bezug auf die psychosozialen Bedürfnisse keinen schlimmeren Ort im Gesundheitswesen als das Krankenhaus mit seiner Organisation“, sagt Baranzke und spricht damit vielen erkrankten Menschen und Angehörigen aus der Seele, denn schon kognitiv kompetente Patienten und Patientinnen kommen mit der vollständigen Unterwerfung individueller Lebensbedürfnisse unter den technisch-funktionalen Organisationsablauf in den Hospitälern schlecht klar.

„Wenn Sie gerade mal als schwerkranker Mensch glücklicherweise weit nach Mitternacht eingeschlafen sind, dann schon wieder um fünf Uhr morgens für die erste Infusion geweckt werden und um sieben steht schon das Frühstück auf dem Tablett, dann werden sie wahnsinnig“, sagt Baranzke und fährt fort: „Kognitiv eingeschränkte Menschen können hier regelrecht traumatisiert und in ihrem emotionalen Gleichgewicht aus der Bahn geworfen werden. Das kann einen verschlimmernden Demenzschub geben.“

Es gäbe aber mittlerweile pflegerische Altenheimkonzepte, die es mit Hilfe präventiver regelmäßiger Gesundheitsuntersuchung vor Ort wirklich schaffen würden, Krankenhausaufenthalte fast völlig zu vermeiden. Wenn eine Krankenhauseinweisung dennoch einmal unumgänglich sei, sei eine psychosoziale Begleitperson zwingend notwendig. Vereinzelt hätten Krankenhäuser die Problematik mittlerweile erkannt und ließen sich auf eine kommunikative Schulung des medizinischen Personals oder eine enge Kooperation mit dafür sensibilisierten Altenpflegeeinrichtungen ein. Das sei für die vorherrschende Krankenhausorganisation allerdings eine echte Herausforderung.

Person-zentrierte Pflege oder von der Behandlung zur Begegnung

Der britische Psychologe Tom Kitwood entwickelte 1995 die von ihm so genannte „Person-zentrierte Pflege“ (engl.: Person-Centred Care; PCC), die die Einzigartigkeit der Person mit Demenz in den Mittelpunkt stellt. Der Erhalt und die Stärkung des Personseins ist sein oberstes Ziel in der Betreuung von Menschen mit Demenz. Kitwood stellt die Hypothese auf, dass eine person-zentrierte Pflege den Prozess einer Demenzerkrankung positiv beeinflussen kann.

Baranzke sieht darin eine Erweiterung des Interventionsrepertoires über das Medizinische hinaus. „Kitwood protestiert seit den 70er Jahren zunehmend gegen die medizinische Reduktion jeglichen Ausdrucksverhalten von Menschen mit Demenz auf die hirnorganische Erkrankung, die den Menschen dahinter nicht mehr sieht. Es steht also nur die neurologische Erkrankung im Vordergrund, die mit medizinisch-pharmakologischen Therapeutika behandelt werden soll. Jegliche Verhaltensauffälligkeiten werden auf die Hirnerkrankung zurückgeführt, andere Ursachen werden missdeutet und Schmerzen oft nicht erkannt.“

Daher müsse vor jeglicher Medikamentengabe zuerst eine allumfassende, gründliche Untersuchung her, die alle anderen Ursachen ausschließt. So hätten zum Beispiel Zahn- oder Tumorschmerzen nichts mit einer demenziellen Erkrankung zu tun und könnten auch nicht mit Psychopharmaka behandelt werden.

„Demenzerkrankte müssen als individuelle Persönlichkeiten mit ihrer Sozialisation, unverwechselbaren Biografie und Vorlieben, aber auch Ängsten und Nöten sowie mit ihren psychosozialen Bedürfnissen wahrgenommen werden“, sagt Baranzke.

Allein die Kriegsgeneration bedürfe dabei eines besonderen Augenmerks. Es gehe in der person-zentrierten Pflege um einen Pradigmenwechsel von der Behandlung eines Krankheitsträgers als Objekt hin zu einer zwischenmenschlichen Begegnung und Kommunikation mit einem an Demenz leidenden Subjekt, also von der Behandlung zur Begegnung.

Verhalten verstehen lernen: ein Beispiel

„Wenn man sich für die Biographie der Menschen interessiert“, sagt Baranzke, „kann man Verhaltensweisen verstehen lernen.“ Ein Beispiel: Eine an Demenz erkrankte Frau, die im Rollstuhl saß, klammerte sich überall fest. Selbst am Tisch wollte sie die Tischplatte nicht loslassen. Irgendwann kam man dahinter, dass diese Frau eine lange Zeit ihres Lebens auf einem schaukelnden Segelschiff verbracht hatte und es daher gewohnt war, sich festzuhalten. „Als man das entdeckt hatte, gab man ihr einen kleinen Stock in die Hand, an dem sie sich festhalten konnte und die Sache war in Ordnung.“

Die Wissenschaftlerin nennt das ein Verstehenlernen des individuellen biografischen Körpergedächtnisses. „Apathisch in der Ecke sitzende Menschen, können beim Besuch des kleinen Enkels, der mit einem Fußball kickt, auf einmal aufstehen und wieder rumkicken, weil das in ihrem Körpergedächtnis ist.“ Daher seien auch intensive Gespräche zwischen Angehörigen und dem Pflegepersonal wünschenswert, um über die Biographie der Heimbewohner ein mögliches Verhalten erkennen zu können.

Eine Lanze für den Pflegeberuf: Gefühlsarbeit

In der Altenpflege, nicht zuletzt durch unsere langjährige Pandemie, schwinden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und wir reden vom Pflegenotstand. Die Frage ist: Wie gebietet unsere Gesellschaft dem Einhalt? Dazu Baranzke: „Die gesellschaftliche und gesundheitspolitische Anerkennung des Pflegeberufs, besonders des Altenpflegeberufs, der ja in der Anerkennungshierarchie ganz unten steht, muss sich fundamental ändern, hin zu einer außerordentlichen, anspruchsvollen und vielseitigen Profession, denn es ist ein anspruchsvoller und vielseitiger Beruf, eine Profession, wo sie viel können, wissen und organisieren müssen. Sie leisten im Prinzip acht Stunden durchgängig Dauerpsychotherapie“ erklärt die Fachfrau und fährt fort, „jeder Psychotherapeut macht nach einer Stunde erst einmal eine Pause. Das können sich Pflegende nicht leisten. Das ist ein richtig harter, aber auch unglaublich vielseitiger und daher ganzheitlich fordernder Job.“

Pflegende litten regelrecht unter der gesellschaftlichen Missachtung und es wäre bereits ein Gewinn, wenn sich das ändern würde. „Wir brauchen auch gesamtgesellschaftlich, das betrifft nicht nur die Pflege, eine Wertschätzung der psychosozialen Fürsorge als Arbeit. ,Gefühlsarbeit‘, die für die viel beschworene, aber wenig verstandene Dimension einer menschenwürdigen Haltung gegenüber besonders vulnerablen Personen unabdingbar ist.“

Um ihre Ausführungen besser verstehen zu können, nennt Baranzke ein Praxisbeispiel für eine gelebte ,Gefühlsarbeit‘. „Ich habe ein wunderbares Beispiel für ,Gefühlsarbeit‘ erlebt, wo eine Pflegekraft mit einigen Teilnehmern einer demenzerkrankten Gruppe ,Mensch-ärgere-dich-nicht‘ gespielt hat. Da konnte man beobachten, was das für eine Arbeit war. Es ging nicht um die Spielfreude der Pflegeperson. Sie hatte alle Mitspielenden genau im Auge und wusste, wann jemand überfordert war und wo man assistieren musste. Wenn diese Pflegekraft an diesem Tag nichts Anderes gemacht hätte, als Mensch-ärgere-dich-nicht zu spielen, wäre sie davon schon hundemüde gewesen. Aber alle anderen Tätigkeiten kamen noch dazu. Fürsorgearbeit“, sagt sie abschließend, „muss in ihrer psychosozialen Dimension, die nirgendwo adäquat bezahlt wird, anerkannt werden. Es ist Arbeit an verkörperten Personen, und zwar unter vollem Einsatz der eigenen Person.“

Naomi Feil, die Begründerin der Validation, einer Methode und Haltung im Umgang mit Menschen mit Demenz sagt: „Es geht darum, der beeinträchtigten Person in ihrer Wahrnehmung empathisch, auf Augenhöhe und mit Respekt zu begegnen.“ Und dafür ist Zeit unendlich wichtig.