Bergische Uni Wuppertal Martin Niemöller – ein kompromissloser Theologe

Wuppertal · Prof. Dr. Alf Christophersen von der Bergischen Uni Wuppertal über den umstrittenen deutschen Theologen Martin Niemöller und seine Aufzeichnungen „Gedanken über den Weg der christlichen Kirche“.

 Alf Christophersen lehrt seit 2018 als Professor für Systematische Theologie in der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften an der Bergischen Universität.

Alf Christophersen lehrt seit 2018 als Professor für Systematische Theologie in der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften an der Bergischen Universität.

Foto: Astrid Padberg

Er gilt als einer der umstrittensten Theologen der evangelischen Kirche. Seine Reden polarisieren Christen in aller Welt: Martin Niemöller, Theologe, KZ-Häftling und Galionsfigur der Bekennenden Kirche. Seine Schulzeit verbrachte der gebürtige Lippstädter am Evangelischen Gymnasium, dem heutigen Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasium in Elberfeld. Schon früh wählte er die NSDAP und befürwortete den Führerstaat.

Als er der Ideologie der Nationalsozialisten zunehmend mit Reserve begegnete, wurde er 1937 verhaftet und verbrachte daraufhin bis 1945 acht Jahre als „persönlicher Gefangener“ Adolf Hitlers in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Dachau. In Sachsenhausen verfasste er in Einzelhaft handschriftlich seine „Gedanken über den Weg der christlichen Kirche“, die der Wuppertaler Theologe Prof. Dr. Alf Christophersen als Mitherausgeber 2019 erstmals veröffentlichte.

Alf Christophersen hatte sich bereits ausführlich mit dem Kaiserreich, der Weimarer Republik sowie dem Nationalsozialismus aus politischer, ethischer und historischer Perspektive auseinandergesetzt, als ihn der Historiker Benjamin Ziemann um seine theologische Expertise zu einem neuen Buch über Marin Niemöller ansprach.

„Er suchte jemanden an seiner Seite, der sich theologiegeschichtlich versiert nicht zuletzt auch mit exegetischen Fragen, neutestamentlich fundiert, auskennt. Das Neue Testament ist mein ursprüngliches Fach gewesen, und so kam es zum Teamwork. Der Historiker auf der einen und der Theologe auf der anderen Seite“, erklärt Christophersen, der an der Bergischen Universität Systematische Theologie lehrt.

Die Haltung Niemöllers zum Führerstaat und seine Wendung zum Widerstand sind nicht ohne einen genauen Blick auf die Kontinuitäten und Diskontinuitäten nachzuvollziehen, und Christophersen sagt: „Es ist die große Frage, ob sich seine Haltung wirklich geändert hat. Auf jeden Fall hat sich die Form der Aktion geändert. Niemöller war immer jemand, der die Weimarer Republik abgelehnt hat, von Anfang an die NSDAP gewählt hat, der sich auch mit verschiedenen Zusammenschlüssen zusammengetan hat, die die Weimarer Republik bekämpft haben.“

Niemöller sei U-Boot-Kommandant gewesen und habe den Beginn der Weimarer Republik nach dem Ende des Kaiserreiches sehr skeptisch gesehen. „Auf der anderen Seite hat er auch immer darauf beharrt, dass die Kirche als Institution und als die Gemeinschaft, in der man sich doch in einem geteilten Glauben verbunden weiß, nicht übergriffig vom Staat so behandelt werden darf, dass nicht mehr klar ist, wer in ihr eigentlich das Sagen hat.“

Die Einführung des so genannten „Arierparagraphen“, der 1933 Bestandteil des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ war und in dem es hieß „Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand zu versetzen“, brachte dann für Niemöller das Fass zum Überlaufen – denn dieser sollte dann auch auf die Kirchen angewendet werden, was, so Christophersen, „von Niemöller als unzulässiger Eingriff wahrgenommen wurde“.

Barmer Bekenntnissynode war Sprengstoff für die Nationalsozialisten

Im Mai 1934 wurde in Barmen auf der Ersten Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche die Barmer Theologische Erklärung verabschiedet. Sie bildete das theologische Fundament der Bekennenden Kirche. Eine Kernaussage darin lautete: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“

„Das war ein Frontalangriff“, erläutert Christophersen, „weil ein wunder Punkt nationalsozialistischer Ideologie getroffen wird: im Volk und im Führer verkörpere sich das gesamte Wesen des Deutschen. Die Betonung der Christologie, die besagt: allein Jesus Christus ist der Herr und sonst nichts, denn er hat einen Anspruch auf unser ganzes Leben, ist dann ein Angriff auf all jene, die meinen, sie könnten andere Mächte ins Spiel bringen.“

Man könne Gott nicht aus dem Wirken in der Geschichte erkennen, man könne ihn nicht in der Ordnung der Natur erkennen, erklärt der Theologe. „Das wird alles ausgeschlossen. Erst recht der Bezug auf Adolf Hitler als Führergestalt, die sich selbst unter dem Aspekt der Vorsehung als verlängerten Arm Gottes betrachtet.“ In dieser Konfliktkonstellation sei dann die Bekennende Kirche aus der Taufe gehoben worden. Obwohl Niemöller nicht aktiv an der Ausarbeitung des Textes der Barmer Erklärung mitgewirkt habe, verkörpere er doch sozusagen diese Beschlüsse, die er im damaligen Kirchenkampf in seiner Gemeinde in Berlin-Dahlem kategorisch umsetzte.

Sondergefangener Hitlers schreibt seine „Gedanken …“ auf

Während seiner Inhaftierung in Sachsenhausen erkannte Niemöller die Mitverantwortung der Kirchen an der Machtergreifung der Nazis und schrieb seine „Gedanken über den Weg der christlichen Kirche“. „Es ist erst einmal ein ganz eigentümliches Phänomen, dass jemand im Konzentrationslager sitzt und sich einem Text widmet, der sich mit der Kirche beschäftigt“, erklärt Christophersen sein Interesse an der Veröffentlichung dieser Aufzeichnungen. „Drum herum starben die Leute, er bekam mit, wie die Hinrichtungen stattfanden, war auch selbst anfangs kurz davor. Dann aber fokussiert er sich und stellt sich die Frage: Was ist eigentlich meine kirchliche und theologische Identität?“

Mit dazu beigetragen habe sicherlich seine Enttäuschung über das Verhalten seiner eigenen Landeskirche, der altpreußischen Union, von der er sich im Stich gelassen fühlte und die ihn in den sogenannten Wartestand versetzten wollte, was einem Rauswurf gleichkam. Niemöller dachte ernsthaft darüber nach, zum Katholizismus zu wechseln. „Der ‚Weg der christlichen Kirche‘ ist im Grunde der Versuch, sich darüber klar zu werden, ob der Protestantismus wirklich die angesagte Konfession ist“, sagt Christophersen.

Man gestand Niemöller einige Bücher zu. „Mit denen hat er dann ein paar Monate still dagesessen und gearbeitet. Er hat diese Zeit genutzt, um den Protestantismus abzuklopfen und als hochgradig abgründig hinzustellen. Das ganze System mit Bischöfen, das sich durchsetzte, hält er für eine absolute Verfehlung, weil die sich wichtiger nehmen als die breite Kirchenmasse, sich herausragend fühlen, ohne es wirklich zu sein. Dann fehlt ihm im Vergleich zum Katholizismus die Eindeutigkeit. Das Papstamt fand er hochattraktiv, weil man da doch wenigstens wusste, woran man war. Das fehlt im Protestantismus. Die evangelische Kirche sieht Niemöller im Grunde gerade in ihrer Zersplitterung in die Landeskirchen als schattenhaftes Gebilde, was gar nicht in der Lage ist, in irgendeiner Weise noch konkret Auskunft zu geben, schon gar keine Orientierung. Diese Kirche läuft für ihn in den Säkularismus hinein, also die reine Verweltlichung, und man verliert alle Prinzipien“, erklärt Christophersen.

Die Frage war für Niemöller nicht „Was ist die Kirche?“, sondern „Wo ist die Kirche?“, und seine Antwort ist eindeutig. „Sie ist bei den Menschen selbst, sie ist auch im Konzentrationslager, sie ist in den Gemeinden und da, wo Leute bedrängt werden, wo man sich an Christus, als zentraler Leitfigur ausrichtet und in ernsthafte Nachfolge tritt. Also sehr, sehr entschieden.“ Seine Idee der Konversion verwarf er alsbald.

Dazu Christophersen: „Niemöller hatte in Dachau einige katholische Pfarrer in seiner Gefangenschaft um sich, mit denen er lebte und den Alltag teilte, auch Andachten hatte, und er merkte, dass das nicht seine Welt war. Der ganze Habitus passte ihm nicht. 1963 hat er in einem Interview mit dem Journalisten Günter Gaus gesagt: ‚Das Fehlurteil bei der ganzen Geschichte ist immer, dass man das Ideal einer anderen Größe mit den praktischen Erfahrungen einer Größe, zu der man selber gehört, vergleicht. Dann kommt es sehr leicht zu diesem Urteil: Die anderen sind besser! Nicht wahr?‘“

Vom Nationalisten zum Pazifisten

Der Militarist Niemöller wird irgendwann zum Pazifisten Niemöller, eine Metamorphose, die für Christophersen nur schwer zu erklären ist. „Er ist eine unglaublich sperrige Person, die sehr getrieben ist von ihren eigenen Überzeugungen. Und diese Überzeugungen konnte er auch ändern“, sagt er. „Niemöller war der festen Meinung, dass die Art und Weise mit Atombomben umzugehen etwa, die beitragen können, dass diese Welt komplett vernichtet wird, ein derartiger Eingriff auch in die Schöpfungshoheit Gottes und des Bestehens der Welt darstellt, dass ein Christ aus seiner Perspektive, der sich in der Nachfolge Jesu sieht, eigentlich gar nicht anders kann, als zum Pazifisten zu werden.“

Das habe er dann mit dem genau gleichen Ehrgeiz durchgezogen, wie er in den 20er Jahren die NSDAP unterstützt habe. „Das ist so eine Art Gesinnungsethik, die wir auch aus anderen Bereichen kennen. Aus der eigenen Haltung heraus wird entschieden, was richtig ist. Und da gibt es keinen Kompromiss. Er kannte auch nur Freund oder Feind.“ Das habe ihn beim Linksprotestantismus attraktiv gemacht, weil es ein wirkliches Angebot gewesen sei. Mit der Theologie der Revolution in den 60er Jahren begann es und in den 70er Jahren verband es sich mit der Nachrüstungsdebatte und floss in die ökologische Krise. „Eher linksgerichtete Protestanten fanden ihn natürlich faszinierend, weil da jemand voranmarschierte und nicht vage blieb. Das Abwägende und Pragmatische hat er massiv zurückgewiesen.“

Bekennende Kirche bedeutet nicht „Widerstand um jeden Preis“

Wenn man von der Bekennenden Kirche spricht, kommt man an der Person Niemöller nicht vorbei. Aus dem Pfarrernotbund (der Pfarrernotbund wurde 1933 gegründet, bestand aus evangelischen Theologen, Pfarrern und anderen kirchlichen Amtsträgern, die sich gegen den Arierparagraphen in der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) wandten. Anm. d. Red.) erwuchs die Bekennende Kirche, in der Niemöller, auch aus seiner Haft, als eine zentrale Figur hervorsticht. Dieses kirchliche Widerstandspathos ging dann aber nach 1945 sukzessive wieder verloren, denn „man merkte, dass man diese Form von Widerstandsgeist eigentlich für Landeskirchen und für die Evangelische Kirche in Deutschland nicht gut gebrauchen kann“, sagt Christophersen. Die Kirche habe auch selber nach 1945 „rezeptionslenkend“ ein Bild von sich weiter aufrechterhalten, dass simplifizierend die Bekennende Kirche auf den Inbegriff des Widerstands gegen alles Menschenfeindliche reduzierte.

„Das wird der Bandbreite überhaupt nicht gerecht“, betont der Theologe, „es gab fließende Übergänge zwischen Deutschen Christen und Bekennender Kirche, es gab einen großen Teil, der weder das eine noch das andere war. Einige haben auch mehrfach die Position gewechselt. Es gab Personen in der Bekennenden Kirche, die durchaus Nationalsozialisten waren. Die Bekennende Kirche hat nicht darauf abgezielt, das ganze Regime zu stürzen, sondern hat eher den Impuls gehabt, die Kirche innerhalb des Totalitären abzusichern. Und das ist viel facettenreicher, als man in den ersten Jahrzehnten nach 45 meinte.“ Was von der Bekennenden Kirche jedoch bleibt, ist aus christlicher Perspektive der beständige Wunsch, sich gegen jegliche politische Vereinnahmung aufzulehnen.

Erst allmählich komme man dahin, kritische Fragen zu stellen und auch die Vielschichtigkeit der Person Niemöllers zu erkennen. „Bei Niemöller haben wir das Problem dieser mangelnden Fähigkeit, Kompromisse einzugehen und wirklich die eigene Person mit autoritärem Gestus zu stilisieren. Das ist heute nicht mehr vermittelbar. Er hat viele Themen angestoßen, er hat auch die Kirche in den globalen Kontext gebracht, hat sich schon über Kolonialismusfragen Gedanken gemacht oder über die Verteilung des Reichtums auf der Erde. All diese Fragen hat er aufgegriffen, aber eben ausgesprochen auf sich selbst fixiert letztendlich.“

Und doch brauchen wir solche Menschen, an denen man sich orientieren kann. „Da ist so jemand wie Niemöller in seiner Unerbittlichkeit natürlich ein permanenter Hinweis darauf, dass man es sich nicht zu einfach machen darf, nicht alles über Bord zu schmeißen, was man aus guten Gründen für wichtig hielt. Eine Figur, an der man sich abarbeiten kann, ist Gold wert, denn das vermissen heute viele wiederum. Wie oft hören wir, damals hatten wir zentrale Gestalten: Willy Brandt, Helmut Schmidt und Franz Josef Strauß, ganz egal, wie man sie politisch findet, die durchaus sagten, was sie dachten.“

Taktgeber der Ökumene

Martin Niemöller, so kontrovers er diskutiert wird, hat die Evangelische Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg aber auch wieder aus der internationalen Isolation befreit. Mit dem Stuttgarter Schuldbekenntnis, das er mitverantwortete, bekannte sich die Evangelische Kirche im Oktober 1945 zu einer Mitschuld evangelischer Christen an den nationalsozialistischen Verbrechen. „Indem Niemöller sich hier eingesetzt hat“, sagt Christophersen, „hat er die Evangelische Kirche wieder salonfähig gemacht für die Integration des deutschen Protestantismus in die weltweite Ökumene. Und das hatte auch eine politische Dimension.“

Niemöller habe zweifelsohne durch seine jahrzehntelangen weltweiten Kontakte in der Ökumene dazu beigetragen, den Protestantismus und auch die Bundesrepublik wieder in die Weltgemeinschaft zu integrieren. „Das kann man nicht hoch genug schätzen.“

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