„Ich denke gar nicht an mich selbst“

Wuppertal · In seiner ersten Rede vor dem Deutschen Bundestag hat sich der Wuppertaler SPD-Bundestagsabgeordnete Helge Lindh gegen einen AfD-Antrag positioniert. Lindh kritisierte die Rechten dafür, beim Thema Flüchtlinge beziehungsweise Familiennachzug stets nur in den Kategorien "kulturfremd" und "gefährlich für unsere Gesellschaft" zu denken.

 Handrin Khalaf zusammen mit ihren Söhnen Laith und Motasem (rechts) sowie dem SPD-Bundestagsabgeordneten Helge Lindh.

Handrin Khalaf zusammen mit ihren Söhnen Laith und Motasem (rechts) sowie dem SPD-Bundestagsabgeordneten Helge Lindh.

Foto: Rundschau

Als Kontrast erzählte Lindh die Geschichte einer syrischen Mutter, die seit drei Jahren versucht, einen ihrer Söhne zu sich nach Deutschland zu holen. Die Rundschau traf sich mit dieser Frau — in ihrer kleinen Wohnung im Uellendahl.

Handrin Khalaf ist 41 und Witwe. Ihr erster Mann, Vater dreier ihrer Söhne, wurde im syrischen Bürgerkrieg getötet. Vor diesem Krieg war sie Kindererzieherin. Später hat sie sich als inoffizielle Taxifahrerin für Frauen durchgeschlagen, Dann wurde ihr Heimatort, der zum Sektor von Nord-Damaskus gehört, zerstört. Haus und Auto gab es nicht mehr. Eine Weile hat Handrin bei ihrer Tante gelebt, ihr ältester Sohn, der heute 20-jährige Laith, musste nach Jordanien gehen, um nicht als Wehrpflichtiger in den Sog des Syrien-Krieges zu geraten. 2015 entschied Handrin, nach Deutschland zu fliehen. Verwandte leben dort. Erste Etappe war die Türkei. Handrins Großmutter und Laith machten sich allein dorthin auf den Weg, Handrin mit ihrem mittleren Sohn Mohamed, der damals zwölf war — und dem 2008 geborenen Motasem. In Instanbul, wo sich alle wiedertrafen, ist die Familie anderthalb Jahre lang geblieben. Handrin hat viel gearbeitet: "Es war nicht einfach, und meine Kinder hatten dort gar keine Zukunft", erinnert sie sich. Also weiter Richtung Deutschland…

Nun aber stellte sich heraus, dass Mohamed vom Krieg, dem Tod des Vaters und der Flucht aus der Heimat stark traumatisiert war. Der Arzt einer UN-Hilfsorganisation rät dringend dazu, dass der Junge zusammen mit der Großmutter in der Türkei bleiben soll, bis Mohamed sich gründlich erholt hat. Wenn die Mutter in Deutschland sei, könne sie ihren Sohn dorthin nachholen. Das ist mehr als drei Jahre her. Und so lange hat Handrin Khalaf ihren Sohn Mohamed nicht mehr gesehen, kann nur per Internet mit ihm und ihrer Großmutter, die in der Türkei zurückgeblieben sind, kommunizieren. Erhebliche formale und juristische Komplikationen haben sich ergeben, immer wieder gilt es zu warten und zu hoffen.
Und Handrin sagt: "Ich frage mich oft, ob es richtig gewesen ist, Mohamed zurückzulassen. Hätte ich vielleicht lieber nicht auf den Arzt hören sollen? Hätte ich ihm den Weg trotzdem zumuten sollen?" Ein Weg übrigens, der ganz klassisch über die Balkanroute führte — meistens zu Fuß und inklusive Schüssen aus dem Hinterhalt auf die mehrheitlich aus Frauen und Kindern bestehende Gruppe im EU-Mitgliedsstaat (!) Ungarn.

Heute in Wuppertal hat Handrin wieder geheiratet — und mit ihrem zweiten Mann den anderthalbjährigen Farouk. Alle fünf zusammen wohnen auf etwa 60 Quadratmetern. Und was mit Mohamed wird, steht immer noch in den Sternen. Handrin sagt: "Ich denke gar nicht an mich selbst. Immer kreisen meine Gedanken um Mohamed. Ich habe keine Ruhe, deswegen kann ich beim Thema Schule meinem Sohn Motasem auch nicht so helfen, wie ich das gern möchte. Er hat es da nicht leicht."

Was wünscht sich die vierfache Mutter für die Zukunft, worauf hofft sie? Dass Mohamed endlich nach Deutschland kommen kann, dass Motasem, der in Syrien viel verpasst hat, sich in der Schule zurechtfindet, dass Laith eine Ausbildung beginnen kann, dass der kleine Farouk nicht allzu lang auf einen Kita-Platz warten muss. Dass sie dann richtig Deutsch lernen und arbeiten kann.

Helge Lindh, der Handrin Khalaf kennenlernte, als sie 2016 gerade vier Monate in Deutschland war, hat das Schicksal dieser Frau, der er "mehr Würde, Anstand und Mut als der gesamten AfD-Bundestagsfraktion zusammen" bescheinigt, als zentrales Bild seiner Rede gewählt, weil es hier "um einen echten Menschen und eine echte Geschichte geht. Das ist ein anschauliches Beispiel aus dem heutigen Leben. Ohne dabei Vorurteile und Ängste zu schüren."

Wie geht es jetzt weiter? Ein Düsseldorfer Rechtsanwalt, der durch die Bundestagsrede auf den Fall aufmerksam wurde, hat sich der Sache vor dem Verwaltungsgericht angenommen. Außerdem könnte exakt der im Zusammenhang mit den GroKo-Verhandlungen erreichte Kompromiss zum Familiennachzug jetzt auch Handrin helfen. 1.000 Menschen pro Monat — plus Härtefälle, so das Ergebnis, auf das sich Union und SPD geeinigt haben. "Genau so ein Härtefall müsste Mohamed sein", glaubt Helge Lindh.

Der Wuppertaler Bundestagsabgeordnete bleibt realistisch: "Das ist kein glänzender Kompromiss. Ich habe viel Kritik dafür eingesteckt. Aber es war meine Gewissensentscheidung. Entweder eine festgelegte Zahl von Menschen zu ihren Familien holen zu können, oder keine Mehrheit zu haben und eventuell gar nichts zu erreichen."

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort