Kommentar Sehnsucht nach dem echten (Er-)Leben

Wuppertal · In drei Tagen ist Silvester – und damit Schluss mit 2020. Was soll man sagen über dieses Jahr? Seit dem Frühjahr, angesichts von nun zwei Lockdowns, den Lockerungen im Sommer und Herbst sowie der ungeheuren Flut von Zahlen, Interpretationen und Meinungen habe ich vor allem eines gelernt: Dass nur echtes Leben und Erleben etwas taugt. Das nachgemachte beziehungsweise virtuelle Leben und Erleben kann da nicht mithalten.

 Stefan Seitz.

Stefan Seitz.

Foto: Bettina Osswald

Es verdient großen Applaus (und ist am Ende wohl auch der einzige Ausweg, um in diesen Zeiten nicht der reinen „Verschieberitis“ anheim zu fallen), dass das Pina-Bausch-Ensemble seine Wiederaufführungs-Rekonstruktion von „Das Stück mit dem Schiff“ als Stream in die Welt geschickt hat. Oder dass Oper, Sinfonieorchester, Schauspiel und die freie Kulturszene sowieso jede Menge digitale Angebote machen. 

Aber wer beispielsweise im September live im Opernhaus bei der spektakulären (und Corona-vorschriftsmäßigen) Premiere von „Romeo und Julia“ dabei war und wenig später die sehr gute Wuppertaler Inszenierung von Hauptmanns „Die Weber“ miterlebt hat, wird sagen: Nur das Echte ist das Wahre.

Das gilt auch für den angeblich der Kultur immer so entgegengesetzten Sport: Einmal habe ich im Fernsehen zehn Minuten lang ein Fußballspiel ohne Zuschauer gesehen. Oder besser gesagt: zu sehen versucht. Diese Friedhofsstille ohne Publikum konnte ich nicht ertragen. Wenn die TV-Sender jetzt Fan-Geräusche künstlich einspielen, hilft mir das nicht (mehr).

Oder nehmen wir die Gastronomie: Wenn wir nun wieder (wie damals beim ersten Lockdown) zu Hause bei bestelltem oder abgeholtem Essen sitzen, gibt’s an den Speisen wenig bis nichts zu mäkeln. Aber etwas fehlt: Das Herumschauen, wer sonst noch im Lokal ist, das Quatschen mit den Kellnern und anderen Gästen.

Ebenso in Sachen Einzelhandel: Herumstreunen und Herumstöbern in irgendwelchen Läden. Online-Shopping auf gesichtslosen Plattformen, die ihren Beschäftigten keine Tarifverträge gewähren wollen, soll das ersetzen? Für mich nicht. Auch schon vor Corona nicht. Jetzt erst recht nicht.

Was mir dieses Corona-Jahr gezeigt hat, ist eigentlich nichts Neues: Menschen müssen Menschen begegnen. Vielen Menschen. Menschen müssen sich unter Menschen bewegen. Anderswohin reisen, um den Kopf frei zu bekommen und andere Menschen zu erleben.

Was aktuell im Raum steht, ist der von verschiedenen Politikern und unterschiedlichen Wissenschaftlern formulierte dringende Appell, dass alles besser werde, wenn wir uns jetzt alle miteinander nochmals, aber diesmal so richtig, zusammenreißen. Über allem steht außerdem natürlich die Hoffnung darauf, dass der Impfstoff bald kommt – und erfolgreich ist.

Möge dieses „Heilsversprechen“ (als solches darf man das durchaus bezeichnen, finde ich) sich erfüllen. Wenn nicht, habe ich große Sorgen in Richtung eines gesellschaftlich, wirtschaftlich, kulturell und politisch hochproblematischen Jahres 2021. Ich glaube nicht daran, dass sich der Weg zurück in die Normalität einer offenen, mobilen und liberalen Gesellschaft nochmals und mit weiteren Lockdowns auf unbestimmte Zeit hinausschieben lässt, ohne dass dabei schwere Risse im Demokratie-Gefüge riskiert werden würden.

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