„Der Zauberberg“ im Theater am Engelsgarten Leben und Tod – weit von der Welt

Wuppertal · 1.085 Seiten in drei Stunden: Das Schauspiel und das Inklusive Schauspielstudio bringen Thomas Manns „Der Zauberberg“ auf die Bühne im Engelsgarten. Kein Spaziergang, dafür sehr beeindruckende Bilder.

Fünf von zehn Ensemblemitgliedern von „Der Zauberberg“ im Theater am Engelsgarten: Lara Sienczak, Konstantin Rickert, Alexander Peiler, Rebekka Biener und Nora Krohm (von links). Im Hintergrund rechts Julia Wolff.

Fünf von zehn Ensemblemitgliedern von „Der Zauberberg“ im Theater am Engelsgarten: Lara Sienczak, Konstantin Rickert, Alexander Peiler, Rebekka Biener und Nora Krohm (von links). Im Hintergrund rechts Julia Wolff.

Foto: Jakob Schnetz

Mit einem Überraschungseffekt geht’s schon los: Im Engelsgarten ist der Autor selbst mit auf der Bühne. Die meisterliche Julia Wolff spielt beziehungsweise spricht Thomas Mann, ordnet ein, erklärt, begleitet – plus für die Zuschauer sehr hilfreicher Hinweise zu aktueller Uhrzeit und Textseitenzahl.

Dieser Kunstgriff der Inszenierung von Henri Hüster und Chris- tofer Schmidt macht sich bezahlt: Das Wortgebirge, das das Ensemble übrigens komplett stolperfrei bewältigt, zu strukturieren, ist unbedingt notwendig. Denn sonst verlöre der Zuschauer sich im Irgendwo-Nirgendwo des Vorkriegs-Lungensanatoriums.

Wie Titelheld Hans Castorp sich verliert. Rebekka Biener spielt diesen Hans Castorp biegsam wie ein Grashalm als höchst applauswürdige Hosenrolle – fast bis zum Schluss gekleidet wie ihr/sein „Wolff-Mann-Alter-Ego“.

Apropos „gekleidet“: Was Hanna Rode in Sachen Bühne und Kostüme abliefert, ist beeindruckend. Ein zwischen Karneval, Queer-Festival und modernem Skulpturenpark changierender Augenschmaus ist das. Dabei immer wieder in faszinierendes Licht getaucht. Gesungen wird übrgens auch: „Those were the days, my friend ...“ zum Beispiel.

Diese „days“ vergehen und sie vergehen doch nicht. Wochen dehnen sich zu Jahren, die Zeit friert ein. Der Tod ist allgegenwärtig – und kommt mit Verlässlichkeit.

Ein Brennglas menschlicher Existenz ist das Sanatorium, ein unausweichlicher Ort, den man zwar verlassen kann, aber stets wieder dorthin zurückkehrt. Zwischen Liegekur, philosophischen Debatten, Vollpension und Verliebtsein schwingt das Pendel.

Und es schwingt so unvorstellbar langsam. Vollgas-Theater ist der Wuppertaler „Zauberberg“ nicht. Vollblut-Theater sehr wohl. Wer ihn nicht kennt, den großen Thomas-Mann-Roman, kann (muss aber nicht) gut und gerne verloren gehen während der drei Stunden. Jedoch auch, wer ihn kennt, könnte das ähnliche Schicksal erleiden.

Aber: Immer wieder werfen außergewöhnliche Bilder einen Anker ins Bodenlose, der greift. Und man bekommt wieder Luft.

Das liegt daran, dass hier eine Menge (zehn Personen sind es) sehr guter, sehr konzentrierter Akteure am Start sind. Alexander Peiler als liberaler Freiheitsverfechter Settembrini liefert sich (streckenweise mitten im Publikum) scharfklingige Wortgefechte mit dem großen Bühnenurgestein Hans Richter als bitterem Naphta, für den der Terror die Zukunft der Menschheit markiert. Aline Blum als türenknallende Clawdia Chauchat spielt Hans Castorps Liebesziel mit sparsamen Bewegungen und blumenzarter Stimme.

Das menschgewordene Hin- und Hergerissensein zwischen Vernunft und Verzweiflung verkörpert Konstantin Rickert als Castorp-Vetter Joachim Ziemßen höchst nachvollziehbar. Nora Krohm zeigt einerseits als leicht zynischer Sanatoriumsarzt Krokowski sowie andererseits als emotional offener Chauchat-Begleiter Peeperkorn viel Potenzial. Und Tim Alberti, der als clownartiger Herr Albin vor Spielfreude geradezu sprüht, darf nicht vergessen werden.

Was ist Krankheit? Was ist Menschsein? Was ist die Zeit? Das sind nur einige der ewig gültigen Fragen, die Thomas Manns „Zauberberg“ stellt: An einem Ort in den Bergen, der aus der Welt gefallen ist.

Die Wuppertaler Inszenierung macht es ähnlich. Mit dem elenden Verrecken auf einem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs endet sie: Gesprochen von mehreren Stimmen aus dem Off.

Danach muss man erst wieder zurückfinden in „unsere“ Welt. Und tief durchatmen.

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