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Tanztheater Wuppertal: Hier wird nicht getanzt!

Tanztheater Wuppertal : Hier wird nicht getanzt!

Endlich wieder eine Uraufführung am Tanztheater: "Seit sie — Ein Stück von Dimitris Papaioannou" erfindet die großen alten Stücke Pina Bauschs in faszinierender Bildsprache neu.

Betreten der Bühne verboten? Ein Tänzer hebt von der Seitenbühne einen Stuhl herein, steigt hinauf, stellt einen weiteren Stuhl vor sich und wechselt auf diesen. Das Ensemble folgt ihm, freie Stühle hinten werden nach vorne gereicht, und so bewegt sich die Gruppe schweigend von Stuhl zu Stuhl durch den Raum, ohne den Boden zu berühren, wie bei einem Kinderspiel. Die Szene wirkt wie improvisiert und doch hochkonzentriert. Und sie fesselt sofort.

Man kann das ja auch sinnbildlich verstehen: Den Boden zu meiden, auf dem einst Pina Bausch ihre großen Tanzabende entwickelte, als sei dieser heiliges — und noch viel mehr äußerst gefährliches Terrain. Schließlich geht es an diesem Abend um nichts weniger als die Neuerfindung des Wuppertaler Tanztheaters: Ein Schritt in die Zukunft, ohne die gewachsene Unverwechselbarkeit aufzugeben.

Mit Dimitris Papaioannou hat Tanztheater-Chefin Adolphe Binder einen in Deutschland weitgehend unbekannten, heißt auch: unverbrauchten Choreographen und Performer mit dieser fast unlösbaren Aufgabe betraut. Der griechische Künstler denkt mehr in Bildern als in Tanzbewegungen. Es gibt eine Szene, da sieht es so aus, als habe eine Tänzerin acht Beine — solche verwirrenden Momente sind, schaut man sich Ausschnitte aus anderen Arbeiten im Internet an, offenbar ein Markenzeichen des Griechen. In einer anderen Szene liegt eine Tänzerin am Boden, die langen Haare wie ein Strahlenkranz ausgebreitet, und darauf werden gefüllte Weingläser gestellt und samt der Tänzerin langsam über die Bühne gezogen. Vor allem in der ersten Hälfte des rund 90-minütigen Stücks kommt man aus dem Staunen über die visuelle Kraft und den Einfallsreichtum kaum heraus.

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Der collagehafte Aufbau mit punktuellen Einwürfen von (meist klassischer) Musik und der fast vollständige Verzicht auf Tanz im engeren Sinn erinnert stark an die Stücke Pina Bauschs aus den 1980er-Jahren, in denen Tanztheater mehr Theater als Tanz war. Auf der Bühne (Tina Tzoka) türmt sich ein Berg aus Matten auf. Irgendwann fährt eine Gruppe von Tänzern auf einem umgedrehten Tisch wie auf einem Schlitten dort hinunter. Auch das könnte aus einem Bausch-Stück stammen — wie so manche kleine Szene. Zu den vielen, mitunter zu vielen Reminiszenzen an die 2009 verstorbene Gründerin des Wuppertaler Tanztheaters gehört auch die (späte) Namensgebung des Werkes (immerhin noch knapp vor der Uraufführung): "Seit sie — Ein Stück von Dimitris Papaioannou" heißt es recht kryptisch. Es liegt nahe, dieses "sie" in Gedanken mit "Pina" zu überschreiben, so deutlich sind oft die Parallelen.

Den mit unterschwelliger Verzweiflung gepaarten Humor der großen Bausch-Stücke findet man hier aber nicht oder bestenfalls stark reduziert (eine Spielszene gleitet dadurch ins Obszöne ab). Die Tänzerinnen und Tänzer erscheinen weit weniger individualisiert als bei Pina Bausch, auch weil es keine Sprechszenen gibt. Umarmungen oder Berührungen: Fehlanzeige. "Seit sie" bleibt in seinen verblüffenden Bildwirkungen im schwarz-weißen Halbdunkel auf unterkühlter Distanz zu dem, was die Menschen auf der Bühne bewegt. Obwohl Nacktheit eine große Rolle spielt, spiegelt sich darin weniger Erotik als eine skulpturale Körperhaftigkeit.

Das Stück ist übervoll an Ideen, und Papaiannou hätte gut daran getan, diesen mehr Zeit einzuräumen. Es gibt die großen Ensembles, darunter einen aberwitzigen Walzer voller Dynamik, bei dem die Frauen hysterisch herumgeschleudert werden — aber kaum hat die faszinierende Szene begonnen, da ist sie auch schon wieder vorbei. Dabei müssten solche Momente das erforderliche Gewicht, heißt auch: die nötige Länge erhalten. Die zweite Hälfte des Stücks leidet an wenig an solcher Kurzatmigkeit und verliert gerade dadurch etwas an Spannung.

Und trotzdem legt das Tanztheater mit "Seit sie" einen eindrucksvollen Neuanfang hin, der den Spagat zwischen Bausch-Tradition und Aufbruch in die Zukunft überraschend gut und unbedingt sehenswert meistert.