Du Yuns Oper „Angel’s Bone“ in der Alten Glaserei Engel mit gebrochenen Flügeln

Wuppertal · Kein Abend zum schnellen Vergessen: Wuppertals neue Opernintendantin setzt mit „Angel’s Bone“ ein ebenso beklemmendes wie faszinierendes Werk an den Beginn ihrer Amtszeit.

 Der Girl Angel und ihr Peiniger: Anna Angelini und Zachary Wilson.

Der Girl Angel und ihr Peiniger: Anna Angelini und Zachary Wilson.

Foto: Daniel Senzek

Nein, das ist ganz sicher kein Spielzeitauftakt, nach dem man sagt: Das war schön! Oder auch nur: Es hat mir gefallen. Dazu ist die Kammeroper „Angel’s Bone“ inhaltlich zu verstörend, die Musik der 1977 geborenen chinesischen Komponistin Du Yun zu irritierend. Aber es ist ein Abend, der unter die Haut geht.

Und bei dem auch erfahrene Opernbesucher sagen: So etwas habe ich noch nicht gehört. Wuppertals neue Opernintendantin Rebekah Rota macht es dem Publikum in der Alten Glaserei gegenüber dem Mirker Bahnhof nicht leicht. Und dennoch – oder gerade deshalb – gelingt ihr mit dieser Oper ein Coup der besonderen Art.

Mehrere Engel landen im Garten eines amerikanischen Ehepaars, das sich, wie man so schön sagt, auseinandergelebt hat. Nach anfänglicher Verwirrung erkennen die beiden die einmalige Chance auf Ruhm und Ehre, stutzen den unerwarteten Gästen die Flügel und bieten sie zahlungskräftigen Gästen als Lustobjekte an.

Man kann das Textbuch (Royce Vavrek) als Parabel auf Menschenhandel und moderne Sklaverei lesen (dazu bieten die Wuppertaler Bühnen einige Begleitveranstaltungen an), aber in der Inszenierung der niederländischen Regisseurin Jorinde Keesmaat wird auch eine sinnentleerte Gesellschaft sichtbar, die vornehmlich in Talkshows und den sozialen Medien existiert und sich dort inszeniert bis zur Selbstaufgabe.

So stilisiert sich Mrs. X.E., die „Entdeckerin“ der Engel, auf absurde Weise zur ikonenhaften Madonna. Text wie Regie lassen dabei vieles offen, geben Raum für eigene Assoziationen und bieten verstörende Bilder – insbesondere bei der Vergewaltigung eines der Engel durch Mr. X.E.

Weil im Opernhaus gerade die Schäden der Flut von 2021 beseitigt werden, finden die Aufführungen in der Alten Glaserei direkt an der Nordbahntrasse statt – kein schlechter Ort, der das Außergewöhnliche dieser Oper noch einmal unterstreicht. Ausstatter Sammy van Heuvel hat einen Laufsteg aus Käfigboxen, in denen die Engel eingesperrt werden, zwischen die beiden Zuschauertribünen gestellt, wodurch man nahe am Geschehen ist und sich dem Sog des Stückes nicht entziehen kann.

Die Musik bedient sich vieler bekannter Elemente quer durch die Musikgeschichte, um diese zu verfremden und neu zusammenzusetzen. Für den meist von der Seite kommentierenden Chor hat Du Yun viele Phrasen komponiert, die nach mittelalterlicher oder barocker Musik klingen – und die vom Wuppertaler Opernchor mit allzu viel romantischem Vibrato gesungen werden, wodurch sie an Schärfe und Präzision einbüßen.

Die Musikerinnen und Musiker des kleinen Kammerorchesters müssen haarsträubend virtuose Soli bewältigen, die den Wahnsinn der Situation beklemmend in Töne fassen. Dann wieder gibt es Passagen, die wie Militärmärsche im schnoddrigen Stile Kurt Weills klingen.

Der absurde und gleichzeitig tief bewegende Höhepunkt ist der Klagegesang des vergewaltigten Engels als abgedrehte Punk-Rock-Ballade.

So unterschiedlich die verwendeten musikalischen Idiome sind, so selbstbewusst und aufreizend frech kombiniert die Komponistin diese zu einem ganz eigenen Stil, der in diesem Kontext wie das Abbild einer zersplitterten, nur noch bruchstückhaft die eigene Tradition bewahrende Gesellschaft klingt. Die in den USA lebende Du Yun hat für dieses Werk 2017 diverse Preise erhalten. Die europäische Erstaufführung fand im Frühjahr dieses Jahres am Theater Augsburg statt..

Stimmen und Instrumente werden elektronisch verstärkt, was gut gelingt und zu einem recht einheitlichen, wenn auch etwas matten Klangbild führt. Man hört insbesondere in der ein wenig verwackelten ersten Hälfte dieser Premiere, wie schwierig die Musik zu singen und zu spielen ist, wobei die Ausführenden zunehmend an Sicherheit gewinnen.

Die junge Amerikanerin Edith Grossman, neu im Ensemble, imponiert als Mrs. X.E., ebenso Zachary Wilson als Mr. X.E und Anna Angelini als Girl Angel (beide Gäste) – und überhaupt überzeugt das gesamte, von Kapellmeister Johannes Witt mit Umsicht geleitete Ensemble. Das Publikum applaudiert lange und verlässt die Aufführung erkennbar betroffen. Ein ungewöhnlicher Opernabend, den man so schnell nicht vergisst.

Drei Aufführungen gibt es noch: Freitag, Samstag und Sonntag, 8., 9. und 10. September 2023 – jeweils um 19.30 Uhr in der Alten Glaserei an der Juliusstraße 12.