Offener Brief des Oberbürgermeisters zum Thema Flüchtlinge "Versagen der EU, des Bundes und der Länder"

Wuppertal · Oberbürgermeister Peter Jung hat sich mit einem offenen Brief zur Flüchtlingssituation an alle Wuppertalerinnen und Wuppertaler gewendet. Hier der Wortlaut:

 Wuppertals OB Peter Jung.

Wuppertals OB Peter Jung.

Foto: Stadt

"Liebe Wuppertalerinnen und Wuppertaler,

die Flüchtlingssituation, die wir aktuell erleben, stellt uns alle vor enorme Herausforderungen. In diesem Jahr werden heutigen Prognosen zufolge voraussichtlich 800.000 Menschen Deutschland erreichen, die auf der Flucht vor Krieg und Gewalt, vor Verfolgung, vor drückender Armut sind. Auch wir in unserer Stadt sind gefordert — oft innerhalb kürzester Zeit — Unterkünfte und weitere Hilfen zur Verfügung zu stellen und zu gewährleisten, dass die zu uns kommenden Flüchtlinge menschenwürdig und sicher aufgenommen werden.

Es bedarf größter Kraftanstrengungen aller Beteiligten, die sich in Wuppertal dieser herausragenden gesellschaftlichen Aufgaben stellen müssen und diese trotz aller Schwierigkeiten — und auch mit ehrenamtlicher Unterstützung — tagtäglich mit bewundernswertem Einsatz meistern. Für dieses Engagement kann man gar nicht genug danken — und gleichzeitig müssen wir weiterhin gemeinsam anpacken, denn die bestehenden Herausforderungen werden für die Stadt, die Hilfsorganisationen, für jeden von uns in den kommenden Wochen und Monaten nicht geringer werden. Denn: Die jetzige Situation in den Herkunftsländern der Flüchtlinge wird sich nicht so schnell ändern, so dass wir auch in Zukunft mit ähnlich vielen Zuwanderern rechnen müssen.

Die Flüchtlings- und Zuwanderungssituation ist für Deutschland eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und muss als solche begriffen und angegangen werden, denn nur so und nur miteinander können wir die Herausforderungen bestehen. Ich bin der festen Überzeugung, dass für ein Gelingen dieser ,Mammutaufgabe' in unserem Land und natürlich auch in Wuppertal folgende Aspekte ganz wesentlich sind:

Verfolgten müssen wir umfassend und langfristig Asyl und Schutz bieten, wir müssen diese Menschen darin unterstützen, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren und sie hier bei uns willkommen heißen — ohne Wenn und Aber!

Gleichsam gilt, dass wir nicht in der Lage sind, allen zu uns kommenden Flüchtlingen in unbegrenzter Zahl eine Perspektive zu geben. Das bedeutet, dass die Verfahren für diejenigen Asylbewerber, denen in ihren Heimatländern weder Krieg noch Verfolgung drohen, schnellstmöglich durchgeführt und diese Menschen alsbald zur Rückkehr in ihre Herkunftsländer bewegt werden müssen oder — das müssen wir ebenfalls realistisch sehen — konsequenter und weit besser organisiert als bisher wieder zurückgeführt werden. Es ist meines Erachtens zwingend geboten, darauf hinzuwirken, dass diejenigen, die offenkundig keinerlei Aussicht auf Asyl-Anerkennung haben, gar nicht erst die Kommunen erreichen, die als Erstaufnahmestelle für das Land eingesetzt und damit völlig überlastet werden.

Deutlich gesagt: In den Städten dürfen nur die Menschen ankommen, die das Erstaufnahmeverfahren, für das das Land zuständig ist, durchlaufen haben und die danach Aussicht auf Asyl in Deutschland haben. Auch sollte in diesem Sinne bereits in den betroffenen Staaten gegengesteuert werden und Verhältnisse geschaffen werden, dass sich Flüchtlinge, die sich ganz offenbar nicht aus einer asylbegründenden Motivation auf den Weg begeben wollen, davon Abstand nehmen. Ich möchte allerdings ausdrücklich davor warnen, verächtlich auf diese Menschen zu schauen, die sich deshalb auf den Weg machen, um sich und ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Wer würde nicht versuchen, aus den oft hoffnungslosen, von Armut geprägten Lebensumständen zu fliehen und sein Glück in der Ferne zu finden?

Dies aufgreifend ist es aus meiner Sicht unerlässlich, den legalen Zuzug nach Deutschland zur Arbeitsaufnahme zu ermöglichen und damit eine echte Perspektive zu eröffnen. Wir brauchen eine ehrliche Debatte darüber, wie wir die Einwanderung gestalten wollen und letztlich klare und verlässliche Regeln für die Zuwanderung in Arbeit und Ausbildung in unserer sich demographisch wandelnden Gesellschaft. In jedem Fall würde dies den — in diesen Fällen zumeist aussichtslosen - Versuch des Zuzugs über Asylanträge spürbar entlasten.

Der vorgenannte Aspekt wird demnächst zu diskutieren sein, aber er lenkt nicht davon ab, dass ich Folgendes angesichts der momentanen Lage in Wuppertal und allen anderen Kommunen drastisch ausdrücken muss: Es ist unerträglich, dass das Versagen der EU, des Bundes und der Länder — auch NRW — auf dem Rücken der Städte ausgetragen wird und vor Ort Schwierigkeiten bereitet, die uns voller Sorge auf das blicken lassen, was noch kommen mag. Das Scheitern auf den verschiedenen Ebenen wurde in dieser Woche in einem Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sehr anschaulich dargestellt, wo es heißt: "Weil Deutschland der Magnet für Flüchtlinge ist (und für solche, die sich nur so nennen), sehen es unsere Nachbarn nicht ein, warum sie die Reise dorthin unterbrechen sollten. Weil der Bund nicht in der Lage ist, daran etwas zu ändern, reicht er die Last — in Form von unbearbeiteten Asylanträgen, überlasteten Aufnahmelagern und nur sporadischer Abschiebung — an die Länder weiter. Weil die Länder nicht in der Lage sind, ausreichende Kapazitäten vorzuhalten, sich gleichzeitig nicht imstande sehen, ihrerseits konsequent abzuschieben, landet das Problem noch weiter unten. Die Kommunen müssen ausbaden, was Bund, Länder und EU anrichten." Ich denke, deutlicher kann man die missliche Entwicklung nicht beschreiben und zum Ausdruck bringen, welch hochgradiger Druck auch hier in unserer Stadt ausgehalten werden muss. Angesichts dessen habe ich große Hochachtung vor dem, was hier in Wuppertal von allen Beteiligten geleistet wird und bin zutiefst dankbar für das großartige Engagement und die Hilfsbereitschaft, die tagtäglich gezeigt werden.

Angesichts der dargestellten Verantwortungen ist es eine zwingende Folge, dass die Kommunen durch den Bund und die Länder dauerhaft und dynamisch von den Kosten der Flüchtlingsaufnahme entlastet werden. Hier in Wuppertal wird, das kann man gar nicht oft genug herausstellen, bezüglich der Flüchtlingsaufnahme Vorbildliches geleistet: wir leben gemeinsam eine Willkommenskultur und unser Umgang mit Flüchtlingen, die wir integrieren wollen und die wir bisher vorrangig in Wohnungen statt in Großunterkünften unterbringen, ist beispielhaft. Wir nehmen diese Aufgabe aktiv an und sind überzeugt davon, dass wir in dieser Hinsicht vor Ort hervorragende Arbeit leisten. Wir können all das aber in keiner Weise aus eigener Kraft bezahlen und es ist auch nicht zumutbar, dass unser bisher erfolgreicher Weg der Haushaltskonsolidierung durch die Bewältigung dieser gesamtstaatlichen Herausforderung unterbrochen wird. Daher bleibt es bei der Forderung nach einer umfassenden und schnellen Entlastung. Die entsprechenden Signale dafür gibt es — nun muss bald die avisierte Unterstützung eintreffen.

Wir müssen ehrlich sein: Es wird nicht leicht, eine so große Zahl von Zuwanderern aus teils anderen Kulturen hier bei uns aufzunehmen, ohne dass es auch Konflikte geben könnte. Es wird uns Anstrengung bereiten, die Veränderungen miteinander zu gestalten und als Stadtgesellschaft — egal, ob unsere Wurzeln in Wuppertal oder anderswo in der Welt liegen — zusammenzuwachsen. Ich bin sehr optimistisch, dass uns dies hier gut gelingen wird, weil die aktuelle Welle der Hilfsbereitschaft und Offenheit — aber auch die Mentalität, Probleme gemeinsam anzupacken — keine vorübergehenden Phänomene sind, sondern die Wuppertalerinnen und Wuppertaler auszeichnet.

Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass uns diese weltoffene, bunte und friedliche Wuppertaler Stadtgesellschaft erhalten bleibt, lassen Sie uns gemeinsam wachsam sein vor rechtsextremen Hetzern und radikalisierten Mitläufern, die — wie zuletzt in Sachsen — vor widerlichen Übergriffen nicht zurückschrecken und lassen Sie uns gemeinsam Solidarität und Nächstenliebe jedem Menschen entgegenbringen, der unseres Schutzes und unserer Hilfe bedarf.

In diesem Sinne grüße ich Sie herzlich

Peter Jung"

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