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Theater am Engelsgarten: Das grelle Glühen

Theater am Engelsgarten : Das grelle Glühen

Wie genießt man ein Theaterstück, von dem man im Vorfeld befürchten muss, es nicht zu verstehen? Peter Turrinis "Alpenglühen" um einen blinden Einsiedler und eine vermeintliche Prostituierte ist so ein Werk.

In der Inszenierung von Marcus Lobbes ist es gerade im Theater am Engelsgarten wiederaufgenommen worden.

Vor der Sommerpause hatte die Premiere stattgefunden und teilweise für Irritationen gesorgt. In Sachen Theater nichts Ungewöhnliches. Die Frage ist eben, wie man sich als Zuschauer auf so ein Stück vorbereitet. Soll man das Werk nebst sämtlicher Sekundärliteratur und Besprechungen lesen oder soll man sich einfach überraschen lassen? Die Wuppertaler Inszenierung lädt zu Letzterem ein.

Denn das, was der zeitgenössische Schriftsteller als Regieanweisungen niedergeschrieben hat, wird von Ensemblemitgliedern per Video vorgetragen. Das hilft zwar einerseits, die absichtlich verwirrende Handlung besser zu verstehen. Andererseits gibt es in Marcus Lobbes' Inszenierung wenig zu sehen.

Das Geschehen lässt sich daher sehr kurz zusammenfassen: Der Blinde (Stefan Walz) und seine Besucherin Jasemine (Philippine Pachl) erzählen sich verschiedene Lebensgeschichten, kommen sich (nicht nur räumlich) näher und verändern ihre Persönlichkeiten. Die Zuschauer erleben diese Verwandlungen, indem Philippine Pachl die Kostüme (Pia Maria Mackert) gut sichtbar am Rand der Bühne wechselt. Stefan Walz sieht man lange Zeit nicht.

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Wie in einem Hörspiel hören die Zuschauer stattdessen, was eigentlich gespielt werden sollte. Doch der Regisseur lässt nicht spielen. Er lässt das Publikum erst in grellem Scheinwerferlicht und später im Halbdunkel sitzen und ein Nichts sehen. Die Zuschauer sind also in der Rolle des Blinden. Auch die gläserne Berghütte, in der das Ganze spielen soll, fehlt. Von Alpen-Panorama — wie von Turrini erdacht — keine Spur.

Stattdessen hängen Papierbahnen von der Decke (Bühne: ebenfalls Marcus Lobbes), die als Leinwand für die Videos dienen. Dahinter agiert "der Junge" (Martin Petschan), die bisher einzige Kontaktperson des Blinden, als Panoramagestalter. Er schneidet aus Papier Buchstaben, Tannenbäume, Kreuze und Bergsilhouetten aus und klebt sie von hinten an die Papierwände.

Stefan Walz spricht seinen Text aus dem dunklen Zuschauerraum — seine Stimme laut und angenehm. Er ist präsent, auch wenn man ihn nicht sieht. Philippine Pachl als verlebte Prostituierte, gefrustete Verwaltungsangestellte und erfolglose Schauspielerin ist meist alleine auf der Bühne. Daher entfallen Spielszenen, die in anderen Inszenierungen gern als Porno-Persiflage genutzt werden. Statt also beide Figuren im Bett zu sehen, hört man Turrinis Instruktionen und sieht Philippine Pachl entsprechende Handbewegungen machen.
Dann gibt es noch den Tiroler Bergführer (Peter Wallgram), der das Publikum zwischendurch immer wieder zum Singen eines Volkslieds auffordert.

Die Inszenierung hält am Ende doch einige Überraschungen bereit. Der Publikums-Chor muss erst singen, dann auf die Bühne kommen und wird somit Teil des Spiels. Wer auf seinem Platz sitzen bleibt, ist selbst schuld, denn mit den Schauspielern wandern bald alle Blicke in den Zuschauerraum. Zum Schluss verwandeln sich der Blinde und die Frau in Romeo und Julia und spielen die Balkonszene aus Shakespeares Klassiker inklusive barocker Kostüme. Absurdes Theater trifft Klassik — ein Experiment, das eine Chance verdient.